PolitikwissenschaftWie Feministinnen den Liberalismus kritisieren
Liberales Denken und Patriarchat sind eng verwoben. Ist Geschlechtergerechtigkeit im Liberalismus überhaupt möglich? Ein Vortrag der Politikwissenschaftlerin Gülay Çağlar.
Freiheit ist das Kernversprechen des Liberalismus. Aber diese Freiheit galt lange nur für weiße Männer. Erst seit 1984 dürfen Frauen in allen Ländern Europas wählen. In Deutschland durften Frauen bis 1977 nur mit Zustimmung ihres Ehemanns arbeiten. Und bis heute verdienen Frauen weniger als Männer.
Kritik am Liberalismus
Gülay Çağlar ist Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin und forscht zu Gender und Diversität. In ihrem Vortrag beschreibt Gülay Çağlar, wie verschiedene feministische Strömungen den Liberalismus kritisieren. Liberale Feministinnen zum Beispiel standen immer sehr dafür ein, die gleichen Rechte zu bekommen wie Männer. Aber auch intersektionale Feministinnen kritisieren den Liberalismus auf dieser Ebene und fordern, dass liberale Rechte für alle gelten.
"Das Gleichheitsversprechen kann gar nicht erfüllt werden, und zwar aufgrund der patriarchalen Beschaffenheit der liberalen Ordnung. Das Patriarchat ist strukturell eingeschrieben. Die Marginalisierung wird immer wieder reproduziert."
Es reicht allerdings nicht, dass Frauen einfach die gleichen Rechte wie Männer bekommen, sagen radikale Feministinnen und sozialistische Feministinnen. Sie meinen, das Patriarchat ist so tief im liberalen Denken verankert, dass sich die Ungleichheit immer wieder durchsetzen wird, erklärt Gülay Çağlar.
So seien beispielsweise die Vertragstheoretiker wie John Locke, Jean-Jaques Rousseau und Immanuel Kant, die liberale Ordnungen philosophisch rechtfertigen, zutiefst misogyn gewesen. Im Zentrum der Vertragstheorien stehe der Schutz des Privaten vor dem Staat. Und im Privaten hätten die Männer die Macht über Frauen und Kinder.
"Emanzipation ist eben kein individuelles Unterfangen, sondern ein Zustand innerhalb der Gemeinschaft."
Die Politikwissenschaftlerin beschreibt in ihrem Vortrag noch eine dritte Form der feministischen Kritik am Liberalismus. Feministinnen, die Care-Arbeit ins Zentrum stellen, haben einen Gegenentwurf zum Liberalismus, so Gülay Çağlar. Ihre Vorstellungen davon, was als emanzipatorisch gilt, unterscheide sich fundamental vom Liberalismus. Denn Care-Arbeit geschieht ihn Gemeinschaft und für die Gemeinschaft, das Individuum wird weniger wichtig, sagt Gülay Çağlar.
Der Vortrag von Gülay Çağlar heißt "Geschlechtergerechtigkeit im liberalen Skript: feministische Perspektiven" und sie hat ihn am 16. Januar 2023 im Rahmen der Vorlesungsreihe Offener Hörsaal "Zur Kritik und Zukunft des Liberalen Skripts" gehalten. Die Vorlesungsreihe wird vom Exzellenzcluster "Contestations of the Liberal Script" veranstaltet, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG gefördert wird.