PhilosophiePazifismus in Kriegszeiten – geht das?

Keine Gewalt, friedliche Lösungen! – Netter Gedanke. Aber kann man Pazifismus, angesichts von Ereignissen wie etwa dem Angriff Russlands auf die Ukraine, (noch) sinnvoll vertreten? Ja, sagt der Philosoph Olaf Müller. Sein Konzept: pragmatischer Pazifismus.

Bei der Frage, ob Deutschland Waffen in die Ukraine liefern soll oder nicht – wo steht ihr da? Waffenlieferungen: Auf jeden Fall? Oder: Sofort stoppen und verhandeln? Irgendwo dazwischen? Unschlüssig?

Die gute Nachricht: Falls ihr bei der Beantwortung dieser Frage schwankt, seid ihr zumindest schon mal nicht allein. Die Ereignisse in der Ukraine und ihre Dimension machen es extrem schwer, sich ein gründliches Urteil zu bilden. Und selbst geschulte Philosophen und überzeugte Pazifisten sind sich unsicher – wie etwa Olaf Müller.

"Das Hauptproblem, das man als Pazifist hat, ist, dass uns immer wieder ein Zerrbild von Pazifismus um die Ohren geklatscht wird: gesinnungsethischer Totalpazifismus, der herzlos oder blind ist."
Olaf Müller, Philosoph

In seinem Vortrag erzählt er, wie er zu Beginn des Krieges zunächst denkt, er muss den Pazifismus jetzt wohl ganz an den Nagel hängen. Dann aber erinnert er sich an große Pazifisten wie Bertrand Russell und Albert Einstein, deren Einstellungen durch ein absolutes Ausnahmeereignis auf die Probe gestellt wurden: den Nationalsozialismus.

Olaf Müller unterzieht seine Auffassung von Pazifismus einer Prüfung. Heraus kommt dabei ein Konzept, dass den Pazifismus verteidigen soll gegen das Vorurteil, eine weltfremde, blinde oder gar gefährliche Ideologie zu sein – und das es bestenfalls ermöglichen soll, Pazifismus mit realen politischen Erfordernissen in Einklang zu bringen.

"Auf der Seite des gesinnungsethischen Pazifismus habe wir eine Art moralische Arroganz, auf der Seite des verantwortungsethischen Pazifismus eine erkenntnistheoretische Arroganz."
Olaf Müller, Philosoph

Olaf Müller nimmt in seinem Vortrag genau unter die Lupe, wie Pazifist*innen und ihre Gegner*innen Situationen wahrnehmen und einschätzen, wie sehr sie dabei werten, wie sie zu Annahmen über mögliche Folgen von Handlungen kommen und welche Rolle Optimismus und Pessimismus dabei spielen.

Pragmatischer Pazifismus als Mittelweg

So arbeitet er sich vorwärts in Richtung eines Mittelwegs zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Er beschreibt eine Art "Pragmatischer Pazifismus", der gut begründete Ausnahmen zulässt und den pazifistischen Grundgedanken rettet, ohne realitätsfern oder verantwortungslos zu sein. Schuldlos allerdings, kommt er trotzdem nicht raus – warum, erklärt er euch im Vortrag.

"Bei der Betrachtung von Wirklichkeit importieren wir bereits unsere Werte."
Olaf Müller, Philosoph

Ganz egal übrigens, ob ihr Olaf Müllers pragmatischen Pazifismus gut oder schlecht findet – sein Weg dorthin funktioniert ganz nebenbei auch wie eine kleine Anleitung, mit Vorsicht, Selbstkritik und kritischer Offenheit gegenüber gegnerischen Argumenten zu möglichst sachlichen, wertfreien und vielleicht guten Entscheidungen zu gelangen – oder zumindest zu so wenig wie möglich schlechten, um es mit Müller zu sagen.

"Wenn ich mich – wie ich es später machen werde – gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspreche, wenn ich mich dafür ausspreche, sie im Stich zu lassen, was die meisten Pazifisten noch nicht mal sagen, dann mache ich mich damit an den Ukrainerinnen und Ukrainern, die uns um Hilfe gebeten haben, schuldig."
Olaf Müller, Philosoph

Olaf Müller lehrt Philosophie mit Schwerpunkt Wissenschaftsphilosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Theorie des Pazifismus ist eines seiner Steckenpferde. Seinen Vortrag "Pragmatischer Pazifismus" hat er am 9. Mai 2023 und zwar im Rahmen der Reihe "Collegium Gissenum" das ist eine jährliche Vortragsreihe des Instituts für Philosophie der Justus-Liebig-Uni in Gießen, die dieses Jahr unter dem Titel "Frieden und Krieg. Philosophische Perspektiven" stattfindet.

Korrektur:
Olaf Müller ist in seinem Vortrag in Minute 37 eine Verwechslung unterlaufen: Es war nicht der französische Präsident Jacques Chirac, den Margaret Thatcher seinerzeit mit der Drohung erpresst haben soll, Atomraketen abzufeuern, sondern sein Vorgänger François Mitterrand. So jedenfalls berichtet es Mitterrands einstiger Psychiater in seinem Buch "Mitterrand auf der Couch. Ein psychoanalytisches Rendezvous mit dem französischen Staatspräsidenten". (27.06.2023)