Pandemie 1918/19Mit Roter Beete gegen die Spanische Grippe
Gegen Ende des Ersten Weltkriegs 1918 grassierte eine weltweite tödliche Pandemie: die Spanische Grippe. Zwischen 20 und 100 Millionen Todesopfer soll sie gefordert haben. Verzweifelt versuchten die Menschen, die damals rätselhafte Krankheit mit Hausmitteln wie Rote Beete oder Gurgeln zu bekämpfen. Vergeblich, wie der Mediziner und Historiker Wilfried Witte in seinem Vortrag schildert.
Knapp eine Milliarde Menschen weltweit steckten sich mit dem damals noch unbekannten Erreger an, heißt es heute – wobei die Schätzungen dazu genauso weit auseinander gehen wie die zu den Todesopfern der Krankheit. Bis heute ist unklar, wie viele Menschen an der Spanischen Grippe tatsächlich gestorben sind.
Klar ist hingegen: Die Mediziner damals standen vor einem absoluten Rätsel. Genaue Statistiken oder präzise Aufzeichnungen wie heute bei der Coronavirus-Pandemie zum Beispiel gab es damals nicht. Mediziner warnten vor der Seuche, tappten aber im Dunkeln.
"Die alarmierenden Nachrichten über den plötzlichen Ausbruch einer rätselhaften Krankheit in Spanien werden sicherlich nicht verfehlen, auch bei uns eine Beunruhigung hervorzurufen."
Viele Ärzte damals glaubten, der Ursprung der tödlichen Seuche seien Kreislauferkrankungen, erinnert der Mediziner und Historiker Wilfried Witte. Sie verabreichten den Erkrankten deshalb unter anderem das inzwischen verbotene Strychnin. Das nützte allerdings genauso wenig wie die vielen anderen Mittel, die die Ärzte ausprobierten.
Vertuschung und Schuldzuweisungen
Es gab weder eine wirksame Therapie noch eine zündende Idee – dafür aber Vertuschung und Schuldzuweisungen. Darin sei das Deutsche Reich während der letzten Kriegsjahre groß gewesen, so der Historiker. Die Parole für die Öffentlichkeit: Alles nicht so schlimm! Und: Eingebrockt hätten das dem deutschen Volk die Briten mit ihrer Hungerblockade.
Auch die offizielle Bezeichnung "Spanische Grippe" ist eine Folge dieses Herunterspielens. Mit der tatsächlichen Herkunft der Seuche hat sie nämlich gar nichts zu tun: Weil sich Spanien im Krieg neutral verhielt, berichteten die Medien dort lediglich freier und ausführlicher über das Phänomen. Nur so erreichten Nachrichten dazu überhaupt das Deutsche Reich.
Prototyp für den Umgang mit Pandemien
Die Bezeichnung "Spanische Grippe" ist jedoch bis heute geblieben. Mittlerweile wissen wir: Bei dem Erreger der Pandemie handelte es sich um das Influenza-A-Virus H1N1. Die weltweite Seuche von 1918 gilt heute unter Wissenschaftlern, Medizinerinnen und Politikern als eine Art Prototyp für den Umgang mit weltweiten Ausbrüchen solcher Krankheitswellen.
"Es ist offenkundig so, dass das auch den Grundstein dafür legte, dass in Japan noch heute das Tragen von Gesichtsmasken extrem verbreitet ist."
In Japan mahnten die Behörden damals die Bevölkerung übrigens unablässig, Gesichtsmasken zu tragen. Auch nach der Pandemie bestimmte das fortan das öffentliche Leben in Japan – bis heute. Und selbst im Deutschen Reich gab es damals vor rund 100 Jahren zumindest vereinzelte Schulschließungen und Quarantäne, erläutert Wilfried Witte. Was aber anders war als bei der aktuellen Pandemie: In der Mehrzahl starben die 20- bis 35-Jährigen, nicht die Älteren und Schwachen.
Wilfried Witte ist Philosoph, Historiker und Mediziner und praktiziert als Oberarzt für Anästhesiologie am Charité-Universitätsklinikum Berlin. Seinen Vortrag "Nur die Spanische Grippe? Grundzüge der Grippe-Geschichte im 20. Jahrhundert" hat er im Rahmen der Vortragsreihe "100 Jahre Spanische Grippe - Influenza 1918–2018" am 18. Oktober 2018 gehalten, die von der Hamburger Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde.