LebensgeschichteDie NS-Biografie eines Retters und Mittäters
Nur aus Geschichtsbüchern nachzufühlen, wie es war, in der NS-Zeit zu leben, ist schwer. Biografien ermöglichen das eher. Der Historiker Winfried Schulze erzählt die widersprüchliche Lebensgeschichte eines Anwalts, der gegen das NS-Regime war und doch mitmachte.
Was hätte ich getan? Vielleicht stellt ihr euch diese Frage auch manchmal, wenn ihr von der Zeit des Nationalsozialismus hört. Aus unserer heutigen Perspektive ist schwer vorstellbar, wie die Menschen damals gelebt, was sie gewusst, was sie gedacht haben, und vor allem: Warum sie wie gehandelt haben.
"Der genaue Blick auf das Leben einer einzelnen Person erlaubt einen viel differenzierteren Einblick in die Motive und Aktivitäten als der abstrakte Blick auf die ganze Gesellschaft."
Geschichtsdaten alleine können das nicht so einfach begreifbar machen. Biografien sind zwar sehr individuell, bieten aber eine ganz anderen, tieferen Zugang. Sie können Überzeugungen, Handeln oder innere Konflikte viel nachvollziehbarer machen.
Geschichte durch Biografien besser verstehen
Der Historiker Winfried Schulze ist auf das Leben eines jungen Anwalts aufmerksam geworden, der eigentlich gegen das NS-Regime war, der im Vernichtungslager Auschwitz Zwangsarbeiter*innen beschützte, aber dort gleichzeitig auch zum systemischen Mittäter wurde.
"Man kann sehr genau beobachten, wie aus einem dem NS-fernen Studenten ein systemischer Mittäter wird."
Um das Paradoxon dieser verwickelten Lebensgeschichte zu verstehen, hat Winfried Schulze Briefe und Tagebücher studiert, nach Akten gesucht und Prozessunterlagen durchstöbert. Puzzlestück für Puzzlestück setzt er so das Bild eines Mannes zusammen, der wohl ohne Absicht in eine moralische Zwangslage geriet, so der Historiker, und später mit seiner eigenen Verleugnung und Verdrängung der Ereignisse in Auschwitz leben und vermutlich auch daran leiden musste.
"Er hatte vor dem internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg gesagt, während seiner Tätigkeit in Auschwitz nichts Strafbares oder Illegales gesehen zu haben. Für einen Juristen eine schier unvorstellbare Aussage."
Winfried Schulze hat Geschichte der Frühen Neuzeit an der FU Berlin, an der Ruhr-Universität Bochum und an der LMU München gelehrt, mittlerweile ist er emeritiert. Seine Forschungs- und Publikationsarbeit geht über diese Epoche aber weit hinaus und hat die Geschichtswissenschaft über die Jahrzehnte geprägt. Neben vielen möglichen Beispielen sei hier nur die Tatsache genannt, dass er maßgeblich daran beteiligt war, dass die deutsche Geschichtswissenschaft in den 90er-Jahren ihre Rolle im Nationalsozialismus und die Konsequenzen daraus diskutierte.
Auf die Biografie von Helmut Schneider stieß er zufällig durch die Bekanntschaft mit dessen Tochter, die in Auschwitz geboren wurde. Sein Vortrag über die Fallstudie zu Schneider mit dem Titel "Die Verdrängung. Der Weg eines deutschen Juristen von Auschwitz nach Goslar" ist der Einblick in ein noch nicht fertiges Buch, das er über Helmut Schneider derzeit schreibt. Gehalten hat er den Vortrag am 18. Oktober 2022 im Kulturwissenschaftlichen Institut Essen.
Artikelbild: Das Bild zeigt das Vernichtungslager Auschwitz. Die Stacheldrahtzäune standen damals unter Strom.