Sehnsucht nach VergangenemNostalgie in der Geschichtswissenschaft
Hach ja, damals... Das Essen schmeckte besser, alles war noch nicht so komplex, nicht so schnell. Solche Empfindungen meinen wir, wenn wir von Nostalgie sprechen - die Sehnsucht nach Vergangenem. Was die in der Geschichtswissenschaft zu suchen hat und wie sie vielleicht sogar produktiv für die Disziplin gemacht werden könnte, dröselt der Historiker Tobias Becker in seinem Vortrag auf.
Der Geschichtswissenschaftler Tobias Becker bezeichnet den Begriff Nostalgie als einen Schlüsselbegriff der Moderne und der Postmoderne. Als einen Begriff, mit dem sich seine Disziplin, die Geschichtswissenschaft, lange sehr schwer getan und eher nicht explizit beschäftigt habe.
Nostalgie lange kein Thema in der Geschichtswissenschaft
Er selbst begreift die Nostalgie als einen vielschichtigen Begriff, der im Laufe seiner Karriere einige Bedeutungsverschiebungen erfahren hat.
"Die Geschichtswissenschaft hat sich noch schwerer getan als andere Disziplinen mit der Nostalgie. Nostalgie scheint ihr das Gegenteil von Geschichte zu sein."
Dabei kann der Begriff selbst auf eine lange Geschichte zurückblicken. Los ging diese, als der Arzt Johannes Hofer in seiner Dissertation ein medizinisches Phänomen beschrieb, das schweizerische Söldner in der Fremde befiel: ein stark krankmachendes Heimweh. Mitunter eine Krankheit zum Tode. Nostalgie wurde also zuerst als medizinischer Fachbegriff geprägt.
"Im Jahr 1688 legt der Arzt Johannes Hofer seine Dissertation über 'Nostalgia oder Heimwehe' vor."
Hofer schafft einen Neologismus - durch eine Übersetzung aus dem Deutschen ins Altgriechische. Laut Tobias Becker entlieh sich Hofer bei Homer die Begriffe Nostos (Heimkehr) und Algos (Schmerz) und fügte sie zusammen. Nostalgie und Heimweh waren lange Zeit synonym zu verstehen. Aber sie entwickeln sich auseinander.
"Noch 1955 kannte der große Brockhaus Nostalgie beispielsweise bloß als Heimweh. 1971 folgte darauf der Zusatz: 'Auch Sehnsucht nach Vergangenem'."
Im 20. Jahrhundert dann erfährt der Begriff Konjunktur. 1973 wird er zu einer Titelstory im Spiegel: "Nostalgie. Das Geschäft mit der Sehnsucht". Der Artikel fasst Nostalgie als "allerneuste Modevokabel der Kulturszenerie". In einer Neuausgabe des Brockhaus ist der entsprechende Artikel umfangreicher geworden. Er verweist auf den Arzt Hofer wie auch auf eine "Nostalgiewelle seit Mitte der 1960er Jahre".
Nostalgie als Erklärungsmodell
Bis in die Gegenwart wird die Nostalgie als Erklärungsmodell für zeitgenössische Phänomene herangezogen und auch kritisiert. Becker problematisiert das. Diese Art der Nostalgiekritik sei selbst nostalgisch.
"Es ist ein generelles Problem der Nostalgiekritik, dass diese, wann immer sie Nostalgie als ein neues Phänomen beschreibt, damit automatisch impliziert, es gäbe eine bessere Zeit vor der Nostalgie."
Tobias Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Friedrich-Meinecke-Institut des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin. Bei der Arbeit an seiner Dissertation über Unterhaltungstheater in Berlin und London 1880 - 1930 fiel ihm auf, wie unbeschwert er und seine Zunft den Begriff Nostalgie benutzt.
Aktuell arbeitet er an seinem Habilitationsprojekt unter dem Titel "Yesterday: A New History of Nostalgia". Seinen Vortrag "Nostalgie - Geschichte, Theorie, Kritik" hat er am 14. Juni 2021 anlässlich des Doktorand*innenforums zur Zeitgeschichte am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam gehalten, es stand unter dem Titel "Nostalgie und Erinnerung".