Nie lächelnWenn wir uns für unsere Zähne schämen
Anna und Hazal hatten jahrelang sehr schlechte und unästhetische Zähne. Sie teilen in dieser Folge ihre Erfahrungen. Psychotherapeut André Wannemüller beleuchtet die unterschätzte psychische Belastung hinter dem Thema Zahngesundheit und Ästhetik.
Kartoffelbrei, gedünstetes Gemüse, immer nur weiches Essen – jahrelang musste Hazal darauf achten, was sie aß. Schokolade, Brot mit Kruste, knusprige Pizza – auf alltägliche Nahrungsmittel und Gerichte musste sie immer verzichten.
Zahnprobleme und ihre Folgen für körperliche und psychische Gesundheit
Hazal litt unter ektodermalen Dysplasie, ein genetischer Defekt, der zu Fehlbildungen führt. Bei ihr bedeutete das, dass ihr keine zweiten Zähne wuchsen beziehungsweise ihre Milchzähne nicht herausfielen. Die Folge: kurze, spitze und vor allem schwache Zähne.
"Ausstrahlung ist alles. Wenn du schiefe Zähen hast, nimmt dich keiner an. Und das tut schon weh."
Erst im Alter von 15 Jahren wurde der genetische Defekt bei einer zahnärztlichen Schuluntersuchung erkannt. Doch Hazals Zahnarzt tat das Problem ab und schickte sie weg mit den Worten, da ließe sich nichts machen.
Umgang mit Vorurteilen, Ablehnung und Mobbing
Doch nicht nur die Zurückweisung durch den Zahnarzt und die Einschränkung beim Essen haben Hazal belastet, in der Schule wurde sie wegen ihrer Zähne gehänselt. Du putzt dir nicht die Zähne, hieß es. Dabei tat sie es doch so gewissenhaft.
Sie hörte: Stell dich nicht zu ihr, sie ist ansteckend. Beim Lachen und Reden hielt sie sich automatisch die Hand vor den Mund.
Später, nach der Schulzeit, erhielt sie trotz guter Schulnoten Absagen auf Jobs. Die kamen auffälligerweise immer erst nach dem Bewerbungsgespräch, also, nachdem man sie und ihre Zähne gesehen hat, schlussfolgert Hazal im Nachhinein.
Irgendwann fand Hazal in der Uniklinik Münster Ärzte, die ihre Krankheit kannten und ernst nahmen. Inzwischen hat sie neue Zähne und ein ganz neues Selbstbewusstsein, wie sie sagt. Den aufwendigen Aufbau des Kieferknochens und den Einsatz von Implantaten hat sie dafür ohne zu zögern auf sich genommen.
"Nachdem meine Zähne gemacht waren, habe ich vor Freude geweint. Ich musste meine Hand nicht mehr vor den Mund halten, konnte lachen und endlich das essen, was ich wollte."
Die Suche nach einem Spezialisten und der Kampf mit der Krankenkasse
Scham wegen ihrer Zähne kennt auch Anna. Obwohl sie eine andere Krankheit hat, ähnelten die Einschränkungen den von Hazal: ausschließlich weiches Essen, auf Bildern nicht lächeln – oder es doch tun und sich dabei unwohl und unschön finden.
Und auch Anna hat bei ihrem Zahnarzt kein Gehör gefunden. Da die Symptome in der Familie bekannt waren, fanden sie schneller zu einem Spezialisten. Der empfahl Anna Implantate.
"Ich wurde morgens mit meinen bisherigen Zähnen unter Narkose gesetzt. Als ich nachmittags aufgewacht, war ich komplett mit Implantaten versorgt", erzählt sie.
"Mein Tipp an alle Betroffenen: Bleibt dran. Lasst euch nicht von Zahnärzten entmutigen. Und wenn dir ein Zahnarzt blöd kommt, sucht einen anderen."
Auch sie nahm die OP in Kauf, kämpfte aber lange mit der Krankenkasse wegen der Kostenübernahme. Denn die stellte sich trotz Annas großer Einschränkungen und Schmerzen, die sie durch ihre leicht entzündlichen Zähne hatte, quer.
Was Anna und Hazal gemein haben: Sie haben Zahnärzte aufgesucht und für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden gekämpft. Viele Menschen aber gingen gerade aus Scham vor ihren schlechten Zähnen nicht zu Zahnarzt, erzählt Psychotherapeut André Wannemüller. Das führe zu einem Teufelskreis, weil sich der Zustand der Zähne mit der Zeit verschlechtere und das Schamgefühl dann noch größer werde.
"Ich bin jetzt ein ganz anderer Mensch. Ich habe schöne, gerade und weiße Zähne, mit denen ich alles machen kann, was ich vorher nicht konnte."
Wege aus der Angst und dem Schamgefühl
André Wannemüller ist Mitbegründer des Therapiezentrums für Zahnbehandlungsangst in Bochum, wo neben Angst vor der Behandlung auch der Umgang mit Scham eine Rolle spielt.
Die Folgen von Scham können massiv sein, erklärt der Psychotherapeut. Viele Menschen ziehen sich zurück, um Blicken oder Kommentaren zu entgehen. Gerade bei Jugendlichen komme es auch zu Mobbing.
"Entgegen dem Vorurteil ist es so, dass Menschen mit Zahnbehandlungsphobie sich oft sehr intensiv die Zähne putzen, in der Hoffnung, den nächsten Zahnbehandlungsbesuch so lange wie möglich hinauszuzögern."
In seiner Praxis hat sich André Wannemüller auf die Behandlung von Angstpatienten spezialisiert, er bietet aber auch psychologische Begleitung für diejenigen an, deren Selbstwert in Folge der Zahnprobleme und der negativen Reaktionen aus dem Umfeld gelitten hat.
Dann gehe es darum, den Selbstwert wieder aufzubauen und sich zu vergegenwärtigen, dass man sich nicht auf den offensichtlichen Mangel reduzieren lässt - durch andere, aber auch nicht durch uns selbst. Das wieder zu lernen sei ein wichtiger Schritt, um wieder ausgelassen zu sein und in Anwesenheit von anderen Freude haben zu können.