MusikgeschichteMusik: Stimmen auf Reise durch Raum und Zeit
Seit Geräusche auf Tonträger gebannt werden können, sind Stimmen nicht mehr an Körper, Ort oder Zeit gebunden. Was macht das mit Musik? Was mit Authentizität? Der Schriftsteller Marcel Beyer nimmt euch mit auf eine akustische Zeit- und Weltreise.
Was haben der Clubhit eines britischen Dancefloor-Duos, ein türkischer Psychedelic-Folk-Song einer israelischen Sängerin und eine Rockoper gemeinsam? Ein Riff. Eine kleine, eingängige Melodiefolge. Woher sie kam? Ob sie geklaut, geliehen, zitiert wurde? Schwer zu sagen. Die Tonfolge ging jedenfalls auf Reisen.
"Wer viel Musik hört, muss lernen, zu verdrängen."
Sie taucht 1971 in Judas' Eröffnungs-Arie von Andrew Lloyd Webbers "Jesus Christ Superstar" auf, findet sich 1978 auf der einzigen Platte der 16-jährigen Grazia aus Jaffa wieder, wabert sechs Jahre später durch den kühlen 80er-Elektro von Anne Clark und kehrt nach noch mal 14 Jahren als prägnante Hook bei The KLF wieder auf – die sich offen und stolz damit brüsten, aus einer Handvoll Samples Nummer-1-Hits basteln zu können.
Plagiate, Zitate, Samples – wie man diese melodischen Wiedergänger auch nennen mag, sie begegnen uns beim Musikhören ständig. Seine kriminalistische Suche nach dem Ursprung dieses Riffs ist aber nur eine von vielen Stationen der Reise, auf die uns der Schriftsteller Marcel Beyer in seinem Vortrag über Stimmen mitnimmt.
Stimmen überdauern den Tod
Sie beginnt mit dem Gesang einer hungrigen Meise und der Frage nach der Authentizität von Stimmen. Sie endet mit dem Tod einer vom Redner geschätzten Musikerin und dem tröstlichen Gedanken, dass Stimmen und Melodien den Tod überdauern.
Marcel Beyer ist Schriftsteller, Hörspielautor, Herausgeber und Musikkritiker – unter anderem. Seinen Vortrag „Die Stimme bleibt fremd. Die Stimme bleibt in Bewegung. Bis Gütersloh“ hat er am 19. Januar 2023 im Rahmen der Mosse-Lectures gehalten, einer interdisziplinären Vortragsreihe des Instituts für deutsche Literatur an der Humboldt-Uni Berlin, die im Wintersemester 2022 / 23 unter dem Titel stand: "Nach der Stimme. Simulationen vokaler Authentizität".