MoralLieferdienste: Ist es okay, faul zu sein?
Essen zu bestellen, bringt moralische Fragen mit sich. Für Orry Mittenmayer ist der tariffreie Liefersektor ein gesellschaftliches Risiko. Er hat selbst ausgeliefert. Rita Molzberger vermittelt zwischen diesen Positionen – philosophisch und praktisch.
Eigentlich ist es so leicht und schön: App auf, Pizza wählen und schon wird das warme Essen auf den Weg gebracht. Andererseits geht das echt ins Geld.
Und dann sind da noch die sozialen Kosten: Jemand radelt zur Pizzeria, wartet auf das Essen, schwingt sich wieder auf das Rad, schlängelt sich durch den Verkehr und schleppt die Iso-Box in den vierten Stock – für einen Hungerlohn. Milan kennt dieses ungute Gefühl beim Bestellen. Er versucht, es mit Trinkgeld zu kompensieren.
"An sich habe ich schon ein schlechteres Gewissen, weil es kein schöner Job ist. Deswegen versuche ich immer, Trinkgeld zu geben."
Orry Mittenmayer hat selbst einige Jahre als Lieferfahrer auf dem Fahrrad gesessen. Seine Arbeit hat ihn politisiert. Die physische Anstrengung ist für ihn dabei das kleinere Übel. Der ökonomische Druck sei der größere Problem. Er wird verstärkt durch den niedrigen Lohn. Hinzu kommen die hohen Lebenshaltungskosten in Großstädten. Und vor allem tragen die Lieferant*innen selbst auch noch die Kosten für ihre Transportmittel.
"Solange es keinen Tarifvertrag gibt, ist es für mich – erstmal auch als Gewerkschafter – Ausbeutung."
Der Gewerkschaftler hat über seine Erfahrungen ein Buch geschrieben "Ausgeliefert. Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können." Er sagt: "Mich hat vor allem genervt, dass ich mit ganz vielen anderen Kolleginnen damals unsere Gehälter nicht vollständig ausgezahlt bekamen."
Niedriglohnarbeit als Radikalisierungsursache
Orry Mittenmayer ist überzeugt, dass die Unzufriedenheit und Wut über die Ungerechtigkeiten im Niedriglohnsektor Menschen radikalisieren kann und letztlich eine Gefährdung für unsere demokratische Verfassung darstellt. Rechtsextreme Kräfte könnten diese Emotionen für ihre Agenda nutzen. Letztlich macht uns der Niedriglohnsektor deswegen alle ärmer, findet er.
"Je größer der Niedriglohnsektor ist, umso größer ist auch die Gefahr für die Demokratie."
Für die Philosophin Rita Molzberger ist an der Sache interessant, dass wir ihres Erachtens beim Bestellen die Arbeit, die gemacht wird, rausrechnen. Sie lehrt an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und sagt: "Wir sehen dann nur, das Essen kommt an die Tür, und spalten das vielleicht so ein Stück ab." Ignoranz gegenüber dem allgemeinen Problem, den Arbeitsbedingungen für Liederdienstfahrer*innen also, ist für sie keine Lösung.
Zwischen Sensibilität und Leidüberflutung
Für sie erwischt uns das Lieferdienstdilemma zwischen zwei Haltungen: Einerseits ist da die Frage nach unserer moralischen Sensibilität, die geübt werden soll, andererseits sei da das Wissen, dass wir verrückt würden, wenn wir jede vergangene und zukünftige Konsumentscheidung – und auch andere Entscheidungen – auf ihren potentiellen Leidgehalt prüfen. "Schon die Gegenstände um mich herum würden mich anschreien, wenn sie von ihren Herstellungsbedingungen erzählen würden", sagt sie.
"Dadurch, dass ich kein Problem darin sehe, ist natürlich nicht das Problem weg."
Rita Molzberger erinnert angesichts der Arbeitssituation der Ausliefernden an ein Konzept des amerikanischen Philosophen John Rawls zur gerechten Gesellschaft. Demnach ist eine Gesellschaft dann gerecht, wenn sie auch den Schwächsten ein würdiges Leben ermöglicht.
Sie empfiehlt, vielleicht selbst einmal zu testen, wieviel Arbeit diese Dienstleistung macht, die wir uns so einfach kaufen können: Also die Schritte: Einkaufen, Kochen und Liefern einmal selbst praktisch nachzuvollziehen. Sie nennt das "leiblich spürbar machen".