Seenotrettung und FluchtEs gibt nicht den einen Fluchtgrund
Immer wieder kommt diese Frage auf: Hat das Angebot humanitärer Hilfe auf dem Meer einen Einfluss darauf, wie viele Menschen fliehen? Migrationsforscher Jochen Oltmer kann keinen direkten Zusammenhang feststellen.
Menschen fliehen und wagen eine gefährliche Überfahrt auf dem Mittelmeer. Geraten sie in Not, werden sie beispielsweise von freiwilligen Seenotrettern geborgen. Immer wieder wird diesen Schiffen aus unterschiedlichen Gründen jedoch verweigert, in europäischen Häfen anzulegen. Ein Vorwurf: Weil die Flüchtlinge auf eine Seenotrettung hoffen können, würden sie sich überhaupt erst auf den Weg machen.
Flucht nicht als geradliniger Weg
In einer Risikoanalyse von Frontex für das Jahr 2017 wird dieser Aspekt ebenfalls genannt: Die Flüchtlinge würden durch Berichte erfolgreicher Überfahrten ermutigt und seien sich bewusst, dass es humanitäre Unterstützung gäbe. Darauf würden sie sich verlassen, heißt es im Bericht der EU-Grenzschutzbehörde.
Jochen Oltmer ist Professor für Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück und erklärt, wie schwer es ist, Fluchtursachen und Anreize zusammenzubringen: "Es sind bloß Vermutungen, es gibt keinerlei Belege." Das betreffe sowohl Annahmen von NGOs, Frontex als auch europäischen Regierungen, die eigene Interessen vertreten. "Wie jede Organisation hat Frontex ein Interesse daran, deutlich zu machen, dass das, was sie tut, wirklich nützlich ist."
"Ganz wichtig ist es, sich vor Augen zu führen, dass wir es in der ganzen Debatte um mögliche Pull-Faktoren nur mit Behauptungen zu tun haben."
Ein direkter Zusammenhang zwischen Fluchtursachen und Anreizen lasse sich nicht herstellen, so der Migrationsforscher. Dies zeigten erste Versuche, wissenschaftlich zu untersuchen, ob in Zeiten mit mehr Rettungsaktivitäten auch mehr Menschen kämen. Für Jochen Oltmer können solche Untersuchungen lediglich an der Oberfläche kratzen: "Das ist keine wirklich intensive wissenschaftliche Betrachtung der Frage, auf welche Art und Weise Bewegungen, beispielsweise aus West- oder Ostafrika, nach Europa ablaufen."
Push- und Pull-Faktoren
In Bezug auf die aktuelle Debatte lohne ein genauer Blick, sagt Jochen Oltmer. So unterteilt die Migrationsforschung in Push- und Pull-Faktoren. Push-Faktoren konzentrieren sich auf jene Umstände, die Druck erzeugen, ein Land zu verlassen: Krieg, Hunger, Umweltzerstörung und Verfolgung zum Beispiel. Unter Pull-Faktoren werden Anreize verstanden, in ein bestimmtes Land zu fliehen: gute Ausbildungschancen, stabile politische Verhältnisse.
"Wir können hier keinen gradlinigen Weg ausmachen. Es ist ein Mix aus sehr unterschiedlichen Motiven und Bewegungen, immer aus der Notwendigkeit heraus zu überleben."
Die tatsächlichen Migrationsursachen, so der Wissenschaftler, ergeben sich aus dem Gesamtkomplex und entsprächen nicht der Vorstellung von einer Migration aus Ost- und Westafrika mit einem klaren Ziel Europa. Das bedeutet, dass sich viele Menschen zunächst einmal in Bewegung setzen, um ein Land zu verlassen. Die Flucht kann also auch ein Prozess sein, bei dem es zu Beginn kein konkretes Ziel gibt.
Wie Aktivitäten von Schleppern wissenschaftlich erschließen?
Ein weiter Faktor in den Migrationsbewegungen sind Schlepper. Dass diese ihre Geschäftsstrategien anpassen, hält Jochen Oltmer grundsätzlich für möglich: "Aber belegen können wir das nicht." Empirische Untersuchungen zu den Kalkulationen und Strategien der Schlepper gibt es nicht. Das liegt an der schwierigen Ausgangslage. Schließlich müssten für Ergebnisse beispielsweise Befragungen durchgeführt werden - in den unterschiedlichen, teils mafiösen Gruppierungen kaum denkbar.