Schwarz-Weiß-DenkenNicht sichtbare Behinderungen: Nachfragen statt Verhalten bewerten

Manche Menschen haben eine Beeinträchtigung, die nicht sichtbar ist. In ihrem Alltag erleben sie oft, dass andere Menschen ihr Verhalten bewerten und unpassend reagieren. Sie wünschen sich mehr Verständnis.

Im Wartezimmer sitzen viele Menschen, das Licht ist grell und die FFP2-Maske drückt auf das Gesicht: Kommen in Alltagssituationen wie diesen viele Reize zusammen, merkt Annika, dass sie raus möchte aus der Reizüberflutung. Dann kommt es schon mal vor, dass die 17-Jährige aufsteht und die Arztpraxis plötzlich verlässt.

Für die Menschen um sie herum ist oft nicht klar, was der Auslöser für Annikas Verhalten ist – weil der Grund nicht sichtbar ist.

Aufhören, andere Menschen zu bewerten

Annika hat eine Autismus-Spektrum-Störung. Situationen wie die im Wartezimmer empfindet sie als unangenehm – besonders, wenn die anderen Menschen mit fragenden Blicken auf ihr Verhalten reagieren. Annika spricht ihre nicht sichtbare Behinderung meistens offen an. Manchmal fällt es ihr aber auch schwer, überhaupt etwas in solchen reizüberflutenden Situationen zu sagen.

Thematisiert die 17-Jährige ihre Autismus-Spektrum-Störung doch, erlebt sie häufig, dass andere Menschen kaum wissen, wie sie sich verhalten sollen. Dann fühlt sie sich oft in eine Schublade gesteckt: "Wenn sie nichts Körperliches sehen, gehen sie davon aus, dass ich eine geistige Behinderung habe. Die Annahme ist nicht schlimm, aber einfach nicht immer richtig." Annika wünscht sich stattdessen, die anderen Menschen würden nachfragen, was genau Autismus in ihrem Fall bedeutet.

Eine Behinderung ansprechen?

Niklas war einmal in einer ähnlichen Situation. Er hatte beruflich mit jemanden zu tun, der eine Sehbehinderung hat. Über die Sehbehinderung wusste Niklas anfangs nicht, weil die beiden per Mail miteinander geschrieben haben.

Bei ihrem ersten Treffen hat Niklas später vermutet, die andere Person könnte eine Sehbehinderung haben – er hat sich aber dagegen entschieden, etwas über die Behinderung von sich aus zu fragen. "Ich könnte mir andersherum vorstellen, dass es sich nicht angenehm anfühlt, wenn man das immer gesagt bekäme in solchen Situationen", erklärt er. Für ihn wäre es anders gewesen, wenn ihn die Person selbst über ihre Sehbehinderung aufgeklärt hätte.

Im Zweifel als Außenstehende nachfragen

Sandra hat es wiederum geholfen, von sich aus nachzufragen. Sie hat eine Prüfung in der Uni abgenommen, als ihr auffiel, dass die befragte Person zwar inhaltlich korrekte Antworten gibt, dabei aber lallend klingt. Als Außenstehende konnte sie nicht erkennen, was der Grund dafür sein könnte.

"Die Person hat gelallt, hat zwar inhaltlich richtig geantwortet, aber sehr zögernd und ich habe mich gefragt, ob das mit Nervosität zu tun hat oder, ob die Person vielleicht ein Problem mit Alkohol hat."
Sandra hat sich dafür entschieden, bei einer Person nachzufragen, ob sie eine Behinderung hat

Als Sandra den Prüfling im Anschluss auf das Lallen angesprochen hatte, hat die Person ihr von ihrem Cochlea-Implantat erzählt. Durch das Implantat kann die Person besser hören, bekommt allerdings nicht mit, wie sie selbst spricht. Deshalb klingt ihre Aussprache manchmal eben lallend.

Diese Info wäre für Sandra in ihrer Rolle als Prüferin wichtig gewesen, sagt sie. "Weil ich dann erst gar nicht angefangen hätte, die Person potenziell falsch zu bewerten." Gleichzeitig kann sie verstehen, wenn eine Person ihre Behinderung nicht ansprechen möchte, um nicht darauf reduziert zu werden.

Das Gefühl, Menschen auszugrenzen

Auch Philipp hat eine Beeinträchtigung, die nicht sichtbar ist. Er selbst spricht von einer Sehbeeinträchtigung. Benutzt er einen Blindenlangstock, nennt er das Outing: "Wenn Menschen rausfinden, dass ich eine Art der Behinderung habe, sagen die in einem anerkennenden Ton: 'Oh Philipp, das hätte ich dir nicht angesehen, voll gut, dass man dir deine Behinderung nicht ansieht'."

Er findet Aussagen wie diese unsolidarisch, sagt er, weil es Menschen mit einer sichtbaren Behinderung ausgrenzt. Entscheidet er sich etwa dagegen, seinen Blindenlangstock zu benutzen, macht er das, weil er das Hilfsmittel nicht zwangsläufig braucht. Ihm geht es aber nicht darum, eine Behinderung zu verstecken.

"Sagen Menschen in einem anerkennenden Ton 'Oh Philipp, das hätte ich dir nicht angesehen, voll gut, dass man dir deine Behinderung nicht ansieht', dann denke ich mir: Hey, das ist wirklich super unsolidarisch, ich werde mich nicht abgrenzen von Menschen, denen man die Behinderung ansieht."
Philipp hat eine Sehbeeinträchtigung

Verständnis und Respekt

So wie Annika wünscht sich auch Philipp mehr Verständnis und weniger Schubladen-Denken, wenn es um die Behinderung einer Person geht – unabhängig, ob diese sichtbar ist oder nicht. Sollte etwas unklar sein, kann es helfen, respektvoll nachzufragen und es gleichzeitig zu verstehen, wenn ein Mensch nicht über die Behinderung sprechen möchte, sagt Philipp.