MauerfallspecialDie Mauer existiert gefühlt noch
Fanny studiert in Jena, ist aber in Schwarzenbach bei Hof groß geworden, einer Region, die zu Zeiten der Mauer als sogenanntes "Zonenrandgebiet" staatliche Förderungen erhalten hat. Dass dort nach der Wende viele Industrien kaputt gingen, machen viele auch heute noch am Wegfall der Zuschüsse fest, erzählt Fanny. Das Denken in Ost-West-Kategorien sei so präsent, dass man den Eindruck gewinnen könnte, die Grenze existiere noch.
Fanny Bartsch wird im Osten geboren, in Weimar bei Thüringen. Die Mauer gibt es da schon lange nicht mehr. Nach drei Jahren in Jena zieht sie nach Schwarzenbach an der Saale in Oberfranken. Nur rund 100 Kilometer weiter. Doch es liegen Welten dazwischen, wie Fanny lernt. Schwarzenbach ist ein ehemaliges Zonenrandgebiet. Die Menschen hier haben zu Zeiten der Mauer Fördergelder erhalten. Nachdem diese weggefallen sind, geht es wirtschaftlich für viele bergab.
Für das Medizinstudium zieht Fanny zurück nach Jena. Sie erlebt eine bunte Studentenstadt mit klar sichtbarer Ostvergangenheit. Viele Menschen aus Schwarzenbach sind überrascht, sagt Fanny, wie nah die Städte aneinander liegen. Die meisten gehen nach Nürnberg oder Erlangen zum studieren. Von der Strecke her weiter entfernt als Jena. Seit 30 Jahren gibt es keine Grenze mehr zwischen den Gebieten. Und trotzdem kommt es Fanny so vor, als existiere sie noch. Sie erzählt, dass die Menschen in Oberfranken häufig in Klischees über Sachsen reden. Sie lästern über den Dialekt, oder sprechen darüber, wie billig alles im Osten sei. Fanny stört das gewaltig.
"Ich hab gedacht: Man kann doch nicht so über Menschen reden, die neben einem wohnen oder leben und nur durch eine ehemalige Grenze von einem getrennt sind, die überhaupt nicht mehr existiert."
Nach der Wende geht es wirtschaftlich für die Zonenrandgebiete bergab. Gerade bei älteren Leuten höre man häufig, wie viel besser alles früher gewesen sei, als noch die Porzellanwerke und die Textilindustrie da waren. Obwohl es auf der anderen Seite der ehemaligen Mauer ähnliche Probleme gibt, finde man nicht zueinander, sagt Fanny. Ihre Familie hat sich nach mittlerweile fast 20 Jahren in Oberfranken etabliert. Aber vom Kindergarten bis ins Gymnasium hat Fanny zu spüren bekommen, dass sie als "anders" gilt.
Fanny spricht zwar ohne sächsischen Dialekt - aber auch nicht Fränkisch. Als Kind wird sie daher ständig nach ihrer Herkunft gefragt. Sie spürt früh, dass sie in ihrer neuen Heimat nicht richtig dazugehört. Mit der Zeit wird sie jedoch stolz auf ihre "Ostvergangenheit" und wehrt sich immer mehr gegen die aufkommenden Klischees. Besonders stört sie, wie in der Schule mit dem Thema DDR umgegangen wird. Gerade dort müsste sich etwas tun. Den Geschichtsunterricht empfindet sie als sehr einseitig.
"Es wurde überhaupt nicht darüber gesprochen, was die Leute in der ehemaligen DDR für Ideen hatten, ihr Land zu gestalten. Das finde ich schon sehr ignorant. Es waren ja trotzdem Wünsche, die die Menschen dort hatten. Die hatten vielleicht ganz andere Ideen - aber in den Geschichtsbüchern ging es nur um Klischees."
Fanny ist überzeugt: Wenn sich am Unterricht etwas ändern würde, könnte es zu einem besseren Verständnis des Ostens im Zonenrandgebiet kommen. Und dann eben nicht nur von Bananen und heruntergekommenen Häuserfassaden geredet werden. Gemeinsam mit Rahel und Tina fährt sie im Deutschlandfunk-Nova-Mobil von ihrer Uni-Stadt Jena nach Hause zu ihren Eltern in Schwarzenbach. Mittlerweile eine ganz besondere Strecke für sie:
"Ich nehme die Schilder der ehemaligen Grenze schon wahr. Jedes Mal, wenn ich mit dem Motorrad über die Brücke hinter Schleiz fahre, wo die Grenze damals lang ging, denke ich: 'So, jetzt hab ich etwas passiert, was vor 30 Jahren niemals möglich gewesen wäre. Das ist, finde ich, ein sehr, sehr schönes Gefühl."
Für das Studium zieht Fanny zurück nach Jena. Und sie ist sicher: Sie will nie wieder zurück nach Schwarzenbach ziehen. Doch im Anschluss an ein Praktikum bei einer Hausärztin in Oberfranken entscheidet sie sich anders. Sie verpflichtet sich dazu, eine Facharztausbildung in Allgemeinmedizin zu machen und dann für mindestens vier Jahre dort zu arbeiten. Im Gegenzug kriegt sie ihr Studium finanziert. In den kommenden Jahren steht der Region ein extremer Hausärztemangel bevor. Fanny will nicht nur dabei helfen, dieses Problem zu lösen: Sie hat sich vorgenommen, jeden, der über den Osten Vorurteile hat, darauf anzusprechen.
Das Mauerfall-Special könnt ihr die gesamte Woche verfolgen. Vom 4. bis 9. November berichten Tina Howard und Rahel Klein hier, auf Instagram, im Grünstreifen, in Ab21 und als Podcast.