Matthias Lohre über Opferinszenierungen"Immer mehr Leute sagen: 'Ich bin Opfer. Ich bin ein moralisches Vorbild.'“
In einer Zeit, in der es keine Helden mehr gibt, suchen immer mehr Menschen die Flucht in eine Opferrolle, sagt Buchautor und Journalist Matthias Lohre. Politisch werde das von verschiedenen Lagern und Personen inzwischen gezielt genutzt, um Macht zu gewinnen.
Früher seien Opfer nicht gerade beneidenswerte Menschen gewesen, sagt Lohre. Sie galten als vermeintlich schwach und wurden gesellschaftlich verachtet. In den letzten Jahren habe es jedoch eine grundsätzliche Umkehr gegeben. "Immer mehr Leute sagen: 'Ich bin Opfer – und das ist etwas Gutes. Denn ich bin ein moralisches Vorbild. Ich darf nur nicht so gut sein, wie ich gerne wäre, weil die bösen Gegner mich klein machen wollen'". In seinem neuen Buch "Das Opfer ist der neue Held" behandelt Lohre die These: Sich machtlos zu geben, kann einem Macht verleihen.
Prominentes Opfer: Donald Trump
Das prominenteste Beispiel dafür sei Donald Trump. Der US-Präsident inszeniere sich als Opfer der Eliten. Dadurch fände er Anklang bei Leuten, die anders sind als er. Das sei insofern faszinierend, als das Trump – Milliardär von der Ostküste – dem Typen entspricht, den die Menschen im mittleren Westen der Vereinigten Staaten eigentlich ablehnen. Er verhalte sich so, wie Menschen sich wünschen, sein zu können, wenn sie die Mittel dazu hätten. Dadurch werde er einer von Ihnen: "Das ist eine paradoxe Situation, aber sie funktioniert", sagt Lohre. Am Ende gewinne Donald Trump durch die Opferinszenierung an Macht.
"Rechte sehen sich als unterdrückt von einer elitären Minderheit. Linke als unterdrückt von einer unverständigen Mehrheit.“
Diese machtbringenden Opferinszenierungen finde man in der Politik häufiger. Rechte sähen sich häufig als Opfer, da sie von einer elitären Minderheit unterdrückt würden. In der Regel seien die Schuldigen Linke, die sie in ihrer Ausdrucksfähigkeit einschränken würden. Linke dagegen sähen sich als unterdrückt von einer unverständigen Mehrheit. Ihr Gefühl, in der Minderheit zu sein, rechtfertige ihren Drang, sich lautstark zu beschweren.
Flucht in die Opferrolle der falsche Weg
Dabei sei es völlig zutreffend, so Lohre, dass tagtäglich Millionen von Menschen diskriminiert würden. Doch die Flucht in die Opferrolle sei nicht der richtige Weg, um dem zu begegnen: "Wenn man nur darüber redet, was alte weiße Männer machen, sind wir keinen Schritt weiter in der Lösung – nur in der Suche nach Schuldigen. Das bringt uns gesamtgesellschaftlich nicht weiter."
Auch in der Klimabewegung um Greta Thunberg sieht Lohre solche Tendenzen in letzter Zeit. Thunberg mache vieles richtig, betont Lohre. Durch ihre Bemühungen habe sie es geschafft, ein eigentlich sprödes Thema mit Emotionen zu versehen und so zugänglich für Menschen zu machen, die es vorher nicht interessiert hat. Doch ihr Auftritt bei der UN-Vollversammlung habe gezeigt, dass sie gerade zunehmend in eine Sprache des Opfers falle.
"Es darf nicht dahin kippen, dass Greta Thunberg sagt: 'Ich bin unschuldig, und ihr, liebe Regierung, seid schuldig.' Dann kippen wir kollektiv zurück in eine Opferhaltung, und sagen: 'Die anderen sollen mal machen."
Den Ursprung für die Flucht in die Opferrolle sieht Lohre schon in unserer Kindheit. Die meisten Menschen hätten dort die Erfahrung gemacht, nicht genug gewollt, gewertschätzt oder beschützt worden zu sein. Dadurch, dass in der heutigen Welt nichts mehr unzweifelhaft richtig sei, fehle es den Menschen an Orientierung. Man wolle auf der richtigen Seite stehen und gemocht werden.
Lohres Appell: Aushalten und Akzeptieren
Während man aber nicht sagen könne, was richtig sei, sei es immer möglich, sich als Opfer zu inszenieren. Denn das Gegenteil könnten Menschen einem eigentlich nicht beweisen. Und auch Menschen, die sich um die vermeintlichen Opfer sorgen, gewännen an Orientierung. Lohre: "Was ist wichtiger, als sich um ein Opfer zu kümmern? Nichts!"
Letztendlich gehe es darum zu akzeptieren, dass die Realität komplex ist. Man müsse aushalten, nicht die einfachen, fertigen Antworten zu haben – und das andere Menschen einem widersprechen. Die Situation in Deutschland gebe ihm dort aber Hoffnung: "Die Mehrheit weiß, dass es kompliziert ist."