LoslassenWie wir unserem früheren Ich verzeihen
Cherida hat sich in der Vergangenheit oft fremdgesteuert gefühlt. Wie sie früher war, das hat sie eine lange Zeit beschäftigt. Psychotherapeutin Annika Haffke erklärt, warum manche leichter mit der Vergangenheit abschließen können als andere.
Früher war Cherida eine People Pleaserin, sagt sie. Damals hat sie die Bedürfnisse anderer wie selbstverständlich vor ihre eigenen gestellt. Wenn eine Freundin zum Beispiel spontan etwas mit Cherida bei einem Treffen besprechen wollte, war sie für ihre Freundin da – obwohl Cherida sich eigentlich ursprünglich Zeit für sich nehmen wollte. Ihr Bedürfnis nach Ruhe hat sie in solchen Momenten aber hinten angestellt, weil sie ihre Freund*innen als wichtiger angesehen hat als sich selbst, sagt sie.
"Ich habe das Wohlbefinden anderer Menschen vor meinem eigenen Wohlbefinden priorisiert."
Jahrelang hat sie dieses Muster so gelebt. Vor zwei Jahren ist Cherida dann an einen Punkt gekommen, an dem sie nicht mehr weitermachen wollte mit dem People Pleasing. Damals hat sie eine schwierige Zeit durchgemacht: Sie hatte Probleme in der Schule, in ihrem Freundeskreis und ist oft umgezogen. Ihr ging es nicht gut. Cherida hatte aber eine Erkenntnis und dachte sich: "Es kann nicht sein, dass du jeden Morgen ohne Motivation aufstehst, nicht weißt, wer du bist, was du machen möchtest – du aber gleichzeitig alles dafür tust, dass es anderen Menschen besser geht", erzählt sie.
Der Weg zum neuen Ich
In der Zeit hat sie sich viel belesen und Podcasts angehört zu Themen wie Selbstwert und Selbstliebe – und Cherida hat auch zu ihrem Glauben gefunden. Ihr Glaube habe sie dazu motiviert, sich mit sich selbst zu beschäftigen, mit der Frage, was ihr gefällt und welche Werte sie vertreten möchte. Cherida hat gelernt, Grenzen zu setzen und für ihre Bedürfnisse einzustehen. "Ich helfe Menschen immer noch sehr gerne. Wenn ich aber merke, dass das nicht mit meinen Plänen übereinstimmt, mache ich das nicht mehr", sagt sie.
"Einer meiner größten Fehler, den ich in der Vergangenheit gemacht habe, ist, dass ich mir sehr oft nicht selbst vergeben habe für vergangene Fehler."
Am Anfang sei es ihr noch schwergefallen, etwa zu einem Treffen "Nein" zu sagen. Diese Grenze offen gegenüber einer Freundin zu kommunizieren, war ein großer Schritt heraus aus ihrer Komfortzone. Heute ist das anders, es fällt Cherida inzwischen viel leichter.
Was sie heute mittlerweile auch kann: die Vergangenheit annehmen und akzeptieren, wer sie damals war. Cherida hat für sich verstanden, dass sie die Vergangenheit nicht mehr ändern kann. Früher hat sie sich selbst oft nicht vergeben für vergangene Fehler, sagt sie. Heute hingegen ist sie stolz darauf, wer sie ist.
Sich selbst verzeihen lernen
Über einzelne Situationen aus der Vergangenheit nachzudenken, wie Cherida es damals getan hat, geht vielen anderen Menschen ähnlich, sagt Psychotherapeutin Annika Haffke. Sich bestimmte Erlebnisse aus einer vergangenen Zeit noch mal anzusehen, könne uns helfen, aus der Vergangenheit zu lernen und eine Situation, die uns möglicherweise nicht gefallen hat, in der Zukunft besser für uns zu lösen.
"Ich glaube, was uns besonders schwerfällt, ist nicht die Vergangenheit per se loszulassen, sondern diese ganz bestimmten Erlebnisse, die mit sehr negativen Gefühlen verbunden sind."
Wir können aber auch in der Vergangenheit verharren. Beziehungsweise in bestimmten vergangenen Erlebnissen: Wenn wir über manche Situationen ständig ins Grübeln kommen, uns gedanklich im Kreis drehen und dadurch auch wieder die Gefühle der Schuld, Scham oder Angst von damals aufkommen, wird es schwierig, sagt die Psychotherapeutin. Dann versuchen wir, im Kopf eine Lösung zu finden, drehen uns tatsächlich aber nur im Kreis. Das kann belasten.
Verständnis für das Vergangenheits-Ich
Annika Haffke rät hier, verständnisvoll mit unserem früheren Ich umzugehen, statt sich selbst dafür zu geißeln. Auch wenn wir unser Handeln von damals nicht mehr für gut befinden, können wir erst mal zu uns selbst sagen: Ich bin okay, obwohl das so gewesen ist. Ich nehme das aber nicht mit in die Zukunft, sondern ich verändere was. Durch diesen Perspektivwechsel können wir aus unseren Fehlern lernen und uns schließlich selbst verzeihen.
"Ich bin okay, obwohl das so gewesen ist. Ich nehme das jetzt aber nicht mit in die Zukunft, sondern ich verändere was."
Für diesen inneren Prozess des Verzeihens kann es helfen, alles in Form eines Briefes aufzuschreiben. Den Brief schreiben wir zwar an uns selbst. Damit wir aber leichter einen verständnisvollen Umgang mit uns finden, können wir uns für diesen Brief vorstellen, was wir engen Freund*innen schreiben würden, wenn sie uns die Situation aus der Vergangenheit schildern. Vielleicht finden wir mutmachende Worte, gehen auf positive Aspekte des Erlebten ein und können uns so selbst verzeihen.
Wem das allerdings schwerfällt und wer weiterhin gedanklich viel in Grübelschleifen unterwegs ist, der sollte solche Situationen mit professioneller Hilfe aufarbeiten.