LiteraturwissenschaftWas den Diskurs um Cancel-Culture so erfolgreich macht
Es herrsche ein gesellschaftliches Klima, in dem freie Meinungsäußerung unmöglich sei, sagen die Erfinder der Cancel-Culture. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub erklärt, wie der Diskurs um diesen Ausdruck funktioniert.
Cancel-Culture beschreibt eine Kultur, in der Menschen für Aussagen öffentlich abgestraft werden, weil sie andere als diskriminierende bewerten - so sehen es zumindest diejenigen, die vor einer sogenannten Cancel-Culture warnen.
In den Jahren 2020 und 2021 wurde das Phänomen in den Medien besonders kontrovers diskutiert. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub hat den Diskurs um Cancel-Culture untersucht. In seinem Vortrag beschreibt er, was ihn so erfolgreich macht.
"Es geht mir um das Element der Selbsttäuschung. Dass man sich in diesem Sprachspiel als Gegenteil von all dem wahrnehmen kann, was man in Wahrheit ist und macht."
Adrian Daub spricht von einer Cancel-Culture-Panik, mit der verzweifelt versucht worden sei, etablierte Hierarchien zu verteidigen. Außerdem erfülle der Diskurs eine Alibi-Funktion: Man könne autoritär reden und Autoritäres fordern ohne als autoritär zu gelten, wenn man Cancel-Culture kritisierte, sagt der Literaturwissenschaftler.
Kritik an linkem Antisemitismus als Diskurs-Neuauflage
Der Begriff Cancel-Culture war noch vor einem Jahr medial deutlich präsenter als heute, sagt Adrian Daub. Das liege daran, dass sich der Diskurs gewandelt habe. "Die Funktionen, die Cancel-Culture als Wort einmal innehatte, erfüllen mittlerweile andere Begrifflichkeiten", erklärt er.
"Zerstörungslust fällt im Cancel-Culture-Diskurs zusammen mit einem geradezu obsessiven Bewahrungsfimmel. Genderstudies würde man am liebsten ausradieren. Aber wehe, es kritisiert jemand ein Jugendbuch, das man 1967 noch ganz okay fand!"
Adrian Daub argumentiert in seinem Vortrag, dass "bestimmte Diskurse über linken Antisemitismus dieser Tage Neuauflagen von Kritiken von Cancel-Culture sind." Er belegt seine These mit Artikeln in deutschen und amerikanischen Medien und zeigt auf, wie sich der Diskurs seines Erachtens gedreht hat.
"Was man vorher implizit verdammte, wird nun gefordert. Was vorher sorgenvolle Artikel hervorrief, ist nun das angeblich Rettende."
Adrian Daub ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik an der Stanford University, wo er auch das Michelle R. Clayman Institute for Gender leitet. In seinem Buch "Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst" analysiert er die mediale Debatte um Cancel Culture.
Seinen Vortrag "Was war Cancel Culture?" hat er am 12. Juni 2024 im Rahmen der Mittwochskonferenz des Forschungszentrums Historische Geisteswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehalten.