Das perfekte Buch für den Moment...…wenn der Schnee dich tröstet
"Manche Dinge schimmern in der Dunkelheit weiß." Mit dieser Beobachtung beginnt das Kapitel "Dinge im Dunkel" in Han Kangs Erzählung "Weiß". Sie gilt als die persönlichste Erzählung der koreanischen Literaturnobelpreisträgerin, in der sie auch den Tod ihrer Schwester verarbeitet.
Die Themen, die in Han Kangs Buch verhandelt werden, sind ohne Frage sehr persönlich: Es geht um den Verlust einer Tochter, einer Schwester, eines Lebens. Es geht um eine Kindheit in einer Familie, die verwundet ist. Es geht um das Weggehen und das Ankommen. Es geht um das Erinnern an diese Kindheit und um Trost.
In allen Erinnerungen, die Han Kang in ihrem Buch "Weiß" festgehalten hat, gibt es etwas Weißes. Zwischen den kurzen Kapiteln hat die Autorin Bilder eingefügt. Bilder, die Han Kang selbst fotografiert hat.
"Ein bisschen ist es so, als würde man durch ein Fotoalbum blättern, aber nicht durch eins mit sehr vielen Bildern und wenigen Beschreibungen, sondern genau anders herum.."
Es sind vor allem die Texte, die die Erinnerungen zum Leben erwecken und die Bilder ergänzen. Manche Texte gehen über mehrere Seiten, manche füllen nicht einmal eine. Man kann sie ganz schnell lesen, nicken und dann weiterblättern.
Von Atemwölkchen und dem Wunder des Lebens
Aber man kann mit dem Weiterblättern auch warten, wenn man eine der Erzählungen fertig gelesen hat, findet Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Lydia Herms.
Zum Beispiel bei Han Kangs Text über die Atemwölkchen. Die Geschichte trägt sich an einem kalten Wintermorgen zu.
Sie stapft durch den Schnee, und mit jedem Ausatmen bilden sich weiße Atemwölkchen vor ihrem Mund. Der Beweis dafür, dass sie lebt. Der Beweis dafür, dass ihr Körper warm ist. Dass er warm genug ist, um die kalte Winterluft zu erwärmen und als Wölkchen auszustoßen.
Ihrer Schwester war das Wunder des Lebens nicht vergönnt
Sie nennt es ein Wunder. Das Wunder des Lebens. Sie darf es erleben. Sie geht durch eine verschneite Stadt und atmet. Und wieder spürt sie die Zeit. Sie kann sie sogar sehen, mit jedem Wölkchen. Ihrer Schwester war dies nicht vergönnt. Sie lebte nur eine Stunde, nachdem sie viel zu früh auf die Welt gekommen war
In einem anderen Text geht es um ein Weiß, das der Lichtkegel auf einer Bühne erzeugt. Alles, was vom Scheinwerfer erfasst wird, leuchtet gleißend hell, fast weiß. Alles was außerhalb liegt, im Zuschauerraum, ist wie ein schwarzes Meer: dunkel. Und sie fragt sich, ob sie sich hinaus in die dunkeln Wellen wagen – oder sich auf der Insel des Lichts behaupten soll.
Weshalb wir als weiß bezeichnen, was eigentlich nicht weiß ist
Manche Dinge oder Zustände, die man auf den ersten Blick für weiß hält oder in Erinnerung für weiß gehalten halt, sind gar nicht weiß. So wie die Dinge im Dunkeln.
Wolken sind eigentlich mehr grau, manchmal sogar braun oder gelb. Milchzähnchen, weiße Haare, Asche oder Gletschereis. Alles nicht wirklich weiß. Warum behaupten wir dann, dass sie es sind? Vielleicht, weil es uns tröstet...?
Das Buch
"Weiß" von Han Kang, Aufbau Verlag, 151 Seiten, Hardcover: 20 Euro, eBook: 14,99 Euro, Hörbuch gelesen von Rike Schmid; Erscheinungstermin: 18.08.2020