SoziologieLehren aus der Pandemie: Umdenken in der Arbeitspolitik
Krisen können Chancen sein – besonders, wenn sie Missstände offenlegen. So auch die Corona-Pandemie. Sie rückt ins öffentliche Bewusstsein, dass viele Menschen, die systemrelevante Arbeit leisten, dies unter schlechten Bedingungen und bei mieser Bezahlung tun. Hat Corona daran etwas geändert? Nein, sagt die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja in ihrem Vortrag, aber es sollte und es könnte sich etwas ändern.
Klatschen für Müllwerker*innen, klatschen für Krankenhaus- und Pflegepersonal, klatschen für Supermarkt-Mitarbeitende, klatschen für Paketbot*innen… Am Anfang dieser Pandemie stand die allgemeine Erkenntnis, wer den Laden Deutschland wirklich am Laufen hält – und die öffentlichen Dankes-Bekundungen dafür. Eine schöne Geste, keine Frage. Aber was kam, was kommt danach?
"Trotz Pandemie kein Bruch mit der Politik der Präkarisierung"
Diese Frage stellt auch Nicole Mayer-Ahuja in ihrem Vortrag "Arbeit im Zeichen der Pandemie: Zwischen Isolation, Spaltung und Solidarität". Die Arbeitssoziologin kritisiert darin, dass die Arbeits- und Sozialpolitik der Vergangenheit Präkarisierung und Ungleichheiten in der Gesellschaft befördert hat.
"Das große 'Wir' gibt es nicht. Die Scheitellinie Kapital und Arbeit ist selbstverständlich immer noch aktuell."
Dass Erkenntnisse aus der Pandemie daran etwas verändert hätten, kann sie nicht ausmachen – im Gegenteil: "Mein Eindruck ist: Wir haben keine grundsätzliche Neuorientierung von staatlicher Politik." Vielmehr haben sich ihrer Ansicht nach die bestehenden Probleme weiter verstärkt.
"Die Pandemie hat soziale Ungleichheiten in verschiedener Hinsicht verschärft."
Sie meint damit nicht "nur" die sogenannten systemrelevanten Arbeitenden, den Niedriglohnsektor, Minijobs, Selbständige oder Fragen der sozialen Sicherung etwa, auch Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern spricht sie in ihrem Vortrag an.
"Meines Erachtens kann man nach den Erfahrungen der Pandemie jahrzehntelange Denkverbote in Hinblick auf die Umverteilung vom gesellschaftlichem Reichtum schwerer aufrecht erhalten. Und das ist gut so."
Lehren aus der Pandemie
Die Arbeitssoziologin belässt es allerdings nicht bei Kritik, sondern macht auch Vorschläge. Sie zeigt auf, welche Lehren aus der Pandemie gezogen werden könnten – zum Beispiel eine Erhöhung des Mindestlohns oder eine stärkere Kopplung von Lohnarbeit und sozialer Sicherung, auch bei Arbeitslosigkeit.
"Ansatzpunkte für eine andere Politik liegen in der Erkenntnis, dass angebliche Sachzwänge eben meist doch das Resultat von Entscheidungen sind. Und wenn das so ist, dann kann man auch andere Entscheidungen treffen."
Die Pandemie hat Gräben vertieft, beobachtet Nicole Mayer-Ahuja. Aber sie glaubt auch: Wenn mit Denkverboten aufgeräumt wird und vermeintliche Sachzwänge neu betrachtet werden, gibt es Potential "für eine neue, für eine solidarischere Politik der Arbeit".
"Verbindende Politik ist denkbar."
Der Vortrag
Nicole Mayer-Ahuja ist Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen und Wirtschaft an der Universität Göttingen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Außerdem ist sie Vertrauensdozentin der Hans-Böckler- und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihren Vortrag hat sie am 2. September 2021 im Rahmen der Fachtagung "Die Zeit des Dazwischen. Was ändert sich gerade?" gehalten, die von der phil.cologne in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet wurde.