Lebensgefahr durch AnsteckungWenn Risikopatienten schulpflichtige Kinder haben

Menschen mit einem geschwächten Immunsystem zählen zur Corona-Risikogruppe. Wenn sie schulpflichtige Kinder haben, stehen sie vor einem großen Dilemma. Boris Palmer hat einen Vorschlag.

2017 hat Sybille erfahren, dass sie an einer Chronischen Lymphatischen Leukämie (CLL) erkrankt ist, eine der am häufigsten auftretenden Blutkrebserkrankungen in der westlichen Welt. Die Krankheit ist nicht heilbar, aber mit Medikamenten gut zu kontrollieren. Trotzdem zählt sie zur Risikogruppe.

"Gegen andere Viren kann ich mich durch Impfungen oder durch Medikamente schützen. Das geht bei dem Coronavirus nicht."
Sybille

Vor der Ansteckung mit anderen Erregern kann sich Sybille durch Impfungen und Medikamente weitgehend schützen, das gilt allerdings nicht für das neuartige Coronavirus und die Erkrankung an Covid-19.

Sybilles Tochter wird schulpflichtig. Das ist ein Problem für Sybille. Denn wenn ihre Tochter Kontakt zu vielen anderen Schülern hat, steigt das Risiko, dass sie sich mit dem Coronavirus infiziert und zuhause ihre Mutter ansteckt.

"Es gibt ziemlich viele Elternteile, die chronisch krank sind und die mit schulpflichtigen Kindern zusammen in einem Haushalt leben."
Sybille

Von der Politik fühlt sich Sybille in ihrer Situation alleine gelassen, weil die Selbstisolation von Risikogruppen, die manche Politiker empfehlen, nicht so leicht umzusetzen ist, wenn beispielsweise schulpflichtige Kinder mit im Haushalt leben. Sie wünscht sich individuelle politische Lösungen, die es ihr beispielsweise ermöglichen, ihre Tochter ein Jahr später einzuschulen.

Selbst dieser Lösungsansatz stellt Sybille vor ein Dilemma, weil sie sich fragt, wie sehr eine soziale Isolation - beispielsweise durch eine gerichtlich genehmigte Aussetzung der Schulpflicht - ihrer Tochter schaden könnte. Sybille möchte ihre eigene körperliche Gesundheit nicht gegen die psychische Gesundheit ihrer Tochter aufwiegen müssen.

Empfehlung von Boris Palmer

Ein Vorschlag, der Sybilles Leben direkt betrifft, stammt von Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, Mitglied der Partei "Die Grünen". Seine Idee: Ältere und Risikopatienten isolieren sich, während weniger Gefährdete nach und nach wieder mehr am öffentlichen und wirtschaftlichen Leben teilhaben.

Das Problem für Sybille: Weil ihre Tochter bald in die Schule geht, kann sie sich de facto nicht isolieren, es sei denn sie hält zu ihrer eigenen Tochter konsequent Abstand.

Sie hat Boris Palmer eine Nachricht geschickt - und auch Antwort bekommen. Auf Nachfrage hat Boris Palmer zugestimmt, dass wir aus seiner Mail vom 14. April 2020 wörtlich zitieren:

"Wenn Ihre Tochter die Infektion hinter sich bringen würde, wäre sie voraussichtlich immun und könnte das Virus nicht mehr zu Ihnen tragen. Ich halte es für denkbar, dass in Ihrem extrem seltenen Fall eine absichtliche Infektion medizinisch vertretbar sein könnte. Vielleicht fragen Sie dazu Ihren Arzt?"

Bewusste Ansteckung medizinethisch nicht vertretbar

Für Sybille ist dieser Vorschlag inakzeptabel, denn er würde bedeuten, ihre Tochter absichtlich einer Gefahr auszusetzen. Zwar ist das Risiko für Kinder, schwere Symptome zu bekommen, gering. Aber es ist da - unabhängig davon, ob Sybilles Fall wirklich "extrem selten" ist.

Unter medizinethischen Gesichtspunkten würde sich auch kein Mediziner dazu bereit erklären, eine gesunde Person anzustecken, sagt Deutschlandfunk-Nova-Reporter Martin Winkelheide. Auch der Virologe Christian Drosten warnt generell vor einer bewussten Ansteckung mit dem neuartigen Coronavirus, weil die Konsequenzen nicht abgeschätzt werden können.

Sybille empfindet die Aussagen mancher Politiker so, dass ihre Situation als Sonderfall eingeschätzt wird. Dabei sind alle Personen, deren Immunsystem aufgrund von Vorerkrankungen geschwächt ist und mit anderen Personen in einem Haushalt leben, davon betroffen. Für sich und andere wünscht sich Sybille politische Lösungen für den eigenen Schutz, der aber beispielsweise nicht auf Kosten von Schutzbefohlenen gehen darf.