Kultur und IdentitätVerbundenheit mit den Eltern durch gemeinsame Sprache
Linhs Vater ist Vietnamese. Seine Sprache hat Linh als Kind aber nicht gelernt. Das belastet sie und deshalb lernt sie gerade Vietnamesisch. Eine Verhaltenstherapeutin erklärt, wie sich die Beziehung zu den Eltern durch Sprache verändern kann.
Linh, 29, lernt seit über drei Jahren Vietnamesisch, weil das die Erstsprache ihres Vaters ist. Er hat mit Linh in ihrer frühen Kindheit Vietnamesisch gesprochen, aber dann irgendwann damit aufgehört. Vermutlich, weil Linh zu dieser Zeit – da war sie etwa zwei Jahre alt – nur deutsche Wörter gesagt hat.
Bis nach dem Abitur hat Linh dann gar kein Vietnamesisch gesprochen, erzählt sie. Lange hat sich Linh darüber auch keine Gedanken gemacht. Das hat sich geändert, als sie Menschen getroffen hat, die die Sprache ihrer Eltern sprechen.
Sprachbarriere innerhalb der Familie schafft Distanz
Als Linh älter war, hat sie auch festgestellt, dass sie mit ihrem Vater nicht so gut über tiefgründigere Dinge sprechen konnte – weil sie eine Sprachbarriere haben. Und das hat bei Linh ein Gefühl von Traurigkeit und Scham hinterlassen.
Ihr ist es auch unangenehm, wenn sie auf ihre Familie in Vietnam trifft und sich mit ihren Verwandten nicht auf Vietnamesisch unterhalten kann: "Es fühlt sich an wie eine große Barriere. Als könnte ich die Menschen gar nicht richtig kennenlernen wie sie eigentlich sind, oder sie mich nicht so richtig kennenlernen. Es macht mich natürlich auch unglaublich fremd."
"Ich schäme mich dafür, dass ich diese Sprache nicht kann, obwohl es ja auch nicht meine Schuld ist."
Linh sagt, dass sie für ihre Familie in Vietnam ohnehin schon fremd ist, weil sie in Deutschland aufgewachsen ist – und dann ist die Kommunikation auch noch schwierig. "Mit meinen jüngeren Cousins und Cousinen geht es natürlich auf Englisch. Aber gerade mit den älteren Familienmitgliedern ist es sehr schwierig und schafft auf jeden Fall eine große Distanz."
Zweiter Anlauf Vietnamesisch zu lernen
Linh hat vor ein einiger Zeit schon mal probiert, die Sprache ihres Vaters zu lernen. Da war sie länger in Vietnam. Als sie zurück war, hat sie aber schnell alles wieder vergessen, erzählt sie. Im Studium hat sie sich dann mehr mit dem Thema Identität beschäftigt und sich auch mit anderen Menschen mit Migrationsgeschichte darüber ausgetauscht.
Als sie dann für zwei Semester in den USA studiert hat, wurde dort an der Uni Vietnamesisch angeboten. Und Linh hat ihren zweiten Versuch gestartet. Seit 2022 nimmt sie zwei Mal die Woche an einem Onlineunterricht teil. Linh selbst sagt, dass sie noch viel Übung braucht – aber auch Fortschritte macht.
"Mir fehlen noch unglaublich viele Vokabeln und es ist immer noch sehr schwer für mich, mit Menschen zu reden oder sie zu verstehen. Aber Lesen und Schreiben geht schon ganz gut."
Linh findet, dass sich die Beziehung zu ihrem Vater auch noch mal zum Positiven verändert hat – dadurch, dass sie jetzt mehr Vietnamesisch mit ihm sprechen kann. "Ich würde sagen, dass wir auch schon vorher eine gute Beziehung hatten, aber es hat ihn glaube ich sehr gefreut, dass ich das noch mal angegangen bin. Ich würde sagen, dass er schon stolz ist, dass ich das jetzt mache."
Gemeinsame Sprache verbindet Tochter und Vater
Linh versucht auch, Hausaufgaben mit ihrem Vater zusammen zu machen, weil er ihr dann helfen kann – anders als sonst in ihrem gemeinsamen Alltag. "Das ist ein ganz schönes Gefühl, weil ich in Deutschland einfach oft in der Position bin, dass ich ihm mit irgendwas helfe – mit Briefen von Behörden oder wenn wir unterwegs sind."
Linh empfindet es auch als schön, dass sie und ihr Vater sich immer besser auf Vietnamesisch unterhalten können.
Sprache und Kultur gehören eng zusammen
Dass Kinder erst spät die Erstsprache ihrer Eltern lernen, kommt häufig vor, sagt Sprachwissenschaftler Onur Özsoy. Leichter wird es, wenn Kinder schon früh mit dieser Sprache konfrontiert waren, erklärt er: "Ich habe zum Beispiel bestimmte sprachliche Muster oder bestimmte Laute gehört, als ich ein kleines Kind war. Das hilft mir dann tatsächlich, wenn ich erwachsen bin und noch mal Kontakt mit dieser Sprache habe, diese Muster wieder zu erlernen."
"Die wichtigste Zeit ist innerhalb des ersten Lebensjahres. Da kann ich mir bestimmte Laute einprägen, die ich als erwachsene Person gar nicht mehr unterscheiden kann."
Wichtig beim Erlernen einer Sprache seien auch kulturelle Zugänge – wie Filme, Kunst und Musik, so der Sprachwissenschaftler. Ähnlich sieht das die interkulturelle Verhaltenstherapeutin Gülcihan Korkmaz: "Das kulturelle Miteinander kann schon sehr viele Gefühle rüber bringen. Die Sprache ist quasi nur der Schlüssel. Die Sprache vereinfacht den Zugang zu einer Kultur. Aber Sprache und Kultur sind tatsächlich nicht von einander zu trennen."
Gülcihan Korkmaz ist selbst als türkisch-migrantische Person in Deutschland aufgewachsen. Inzwischen begleitet sie junge Erwachsene, die zum ersten Mal einen eigenen Zugang zur Kultur ihrer Eltern suchen. Dabei redet sie mit Betroffenen, die die Erstsprache ihrer Eltern nicht sprechen, zunächst mal über deren emotionale Lage und über das Zugehörigkeitsgefühl zu der jeweiligen Kultur.
"Wir schaffen erst mal Identität und häufig entwickelt sich bei den Betroffenen dann von ganz alleine die Idee, einen Sprachkurs zu machen."
Häufig möchten Betroffene dann von ganz alleine die Sprache lernen oder sie reisen für längere Zeit in das Land ihrer Eltern, erzählt Gülcihan Korkmaz. Das kann ihrer Meinung nach mehrere Vorteile haben. Das Ich-Gefühl und der Selbstwert der Betroffenen werde gestärkt. Auch die Bindung zu den Eltern könne sich so verbessern.
Gülcihan Korkmaz hält es auch für wichtig, sich mit der eigenen Kultur auseinanderzusetzen: "Haben wir andere kulturelle Anteile in unserer Familie, haben sie Anteile an unserem Ich. Und wenn ich die negiere, dann habe ich keinen richtigen Zugang zu mir selbst."
Warum bringen Eltern ihren Kindern nicht die eigene Sprache bei?
Linh hat in ihrer Kindheit von ihrem Vater kaum Vietnamesisch beigebracht bekommen. So etwas passiert häufig, sagt Gülcihan Korkmaz. Ein Grund dafür kann der Bildungshintergrund sein. Sie nennt als Beispiel Türkinnen und Türken, die in den 60er-Jahren nach Deutschland gekommen sind: "Da ist ganz normale Dorfbevölkerung nach Deutschland gekommen. Das waren keine hochgebildeten Menschen. Die haben ihre eigene Sprache häufig nicht richtig gesprochen. Und wenn ich meine eigene Sprache nicht gut beherrsche, kann ich sie nur schwer weitergeben."