Krieg gegen die UkraineRussland und Totalitarismus im 21. Jahrhundert
Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine stellt eine historische Zäsur dar. Eine Zeitenwende sei er aber nicht, denn er beruhe auf Entscheidungen, die schon Jahrzehnte zurückliegen. Ein Vortrag über die historischen Wurzeln dieses Krieges von Historiker Jan C. Behrends.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 kam nicht plötzlich oder völlig unerwartet. Ihn als nicht vorhersehbare Zeitenwende darzustellen, sei falsch, sagt der Historiker Jan C. Behrends.
"Die Mär von der abrupten Zeitenwende im Februar 2022 ist eine deutsche Geschichte, die wir uns hier auch erzählen, um unsere eingeschränkte Perspektive, unsere intellektuelle Bequemlichkeit und Ignoranz über Osteuropa zu rechtfertigen."
In seinem Vortrag beleuchtet Jan C. Behrends die Entwicklungen Russlands seit den 1990er-Jahren. Denn in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion wurden die Weichen für heute gestellt. Die Perestroika, der Prozess des zivilen Wandels staatlicher Strukturen, endete früh, so der Historiker. Nämlich schon 1993 mit dem Einsatz von Panzern in Moskau. Seitdem hat in Russland ein autoritärer Umbau begonnen, den der russische Präsident Wladimir Putin bis heute fortsetzt.
"Der autoritäre Umbau Russlands begann nicht mit Putin. Putin setzte ihn nur fort und hat ihn dieses Jahr so weit getrieben, dass wir uns fragen sollten, ob wir nicht vom Totalitarismus des 21. Jahrhunderts sprechen müssen."
Fehlende Reformen in der Armee und der Geheimpolizei
In vielen Staaten der ehemaligen Sowjetunion begann in den 1990er-Jahren ein grundlegender Wandel in Richtung einer modernen zivilen Gesellschaft. Nicht so in Russland. Weder die Armee noch der russische Geheimdienst KGB wurden je grundlegend reformiert. Sie blieben auch nach dem Ender der Sowjetunion weitgehend unbeschadet erhalten.
"Im Unterschied zu den Staaten Ost- und Mitteleuropas blieben in Russland zwei Säulen der leninischen Diktatur dauerhaft erhalten: die Geheimpolizei und die Armee."
Karriere machten in der russischen Armee und teils auch in der Politik oft diejenigen, die sich in dem extrem gewalttätigen Krieg in Afghanistan ausgezeichnet hatten. Auch die Kriege in Tschetschenien wirken bis heute nach. Die brutale Kriegsführung gegen die Ukraine findet dort ihre Ursprünge.
Denn: "Tschetschenien war nicht der Ausnahmefall, sondern ein Laboratorium der Gewalt. Was dort in den 1990er Jahren ausprobiert wurde, hat sich mittlerweile an anderen Orten wiederholt. In Georgien, im Donbas und nun auch in allen besetzten Gebieten der Ukraine", sagt der Historiker.
In seinem Vortrag erklärt Jan C. Behrends, wie unterschiedlich die Entwicklungen der Staaten der ehemaligen Sowjetunion seit den 1990er Jahren verlaufen sind und warum sich nicht überall weltoffene staatliche und zivile Strukturen entwickelt haben.
Jan Claas Behrends ist Historiker und forscht zu Diktaturen und den Entwicklungen Osteuropas. Er ist Professor an der Europa-Universität Viadrina. Der Vortrag ist seine Antrittsvorlesung und hat den Titel "Das Ende der postsowjetischen Epoche oder die Bedeutung der 1990er Jahre für das 21. Jahrhundert", den er am 16. Mai 2022 in Frankfurt an der Oder gehalten hat.