Politikwissenschaftler über Krieg in der Ukraine"Waffenlieferungen lösen diesen Konflikt nicht"
Waffen an die Ukraine zu liefern, löse den Konflikt nicht, das verlängere ihn nur, sagt der Politikwissenschaftler Johannes Varwick. Er spricht sich dafür aus, politisch zu verhandeln, um ein schnelleres Ende des Krieges zu erreichen.
In der Sicherheitspolitik gebe es selten Entscheidungen, die zu hundert Prozent falsch oder richtig seien, sagt der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es gilt Eskalationsszenarien abzuwägen, bevor die Bundesregierung darüber entscheidet, ob zum Beispiel Raketenabwehr-Panzer an Kriegs- und Krisengebiete wie die Ukraine geliefert werden.
Abwägung von Zielen aus der Sicht Deutschlands und der EU
Aus unserer westlichen Perspektive gibt es verschiedene politische Ziele, die wir haben oder haben sollten, sagt Johannes Varwick, die es bei solchen Entscheidungen zu berücksichtigen gilt. Der Politikwissenschaftler nennt drei:
- Einen offenen Krieg mit Russland verhindern, der den dritten Weltkrieg bedeuten könnte
- Der Ukraine helfen, sich zu verteidigen und als Staat zu behaupten
- Russland einen Preis für sein Verhalten vor Augen führen
Da wir nicht alle Ziele gleichermaßen erreichen könnten, sei es notwendig zu priorisieren, sagt der Politikwissenschaftler. Den Kriege mit Russland zu vermeiden, sei dabei die oberste Priorität, sagt Johannes Varwick. Das könne man als "schmutzige Realpolitik" bezeichnen. Solche Entscheidungen zu treffen, könne unangenehm sein - aber angesichts der Situation könne man zu keinem anderen Ergebnis kommen, sagt der Politikwissenschaftler.
"Wenn wir priorisieren, sollten wir dem ersten Ziel, der Vermeidung des Krieges mit Russland, den höchsten Wert einräumen."
Diplomatische Vermittlungsversuche durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, oder den türkischen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan scheinen bisher nicht zum Erfolg zu führen. Das heiße aber nicht, dass man politische Verhandlungen mit Waffenlieferungen in einen Vergleich setzen sollte.
Varwick: "Dieser Krieg wird am Ende nur durch eine politische Verhandlungslösung beendet"
Aus der Sicht des Politikwissenschaftlers Johannes Varwick sei das Ende des Krieges gegen die Ukraine schon klar. Deswegen rät er dazu, den Krieg vom Ende her zu denken.
Der Politikwissenschaftler geht davon aus, dass die Ukraine einen Sonderstatus bekommen muss beziehungsweise wird: der eines neutralen, demilitarisierten Staates, der nicht im Kreis der westlichen Staaten zu verordnen ist.
Außerdem müsste wohl akzeptiert werden, dass es Veränderungen an den ukrainischen Grenzen geben wird. Varwick geht davon aus, dass zum Kriegsende die Ukraine nicht mehr die volle Souveränität über die Ostgebiete besitzen und die Krim vom russischen Staat kontrolliert wird.
Den Krieg vom Ende her denken
Das seien alles schwierige und unangenehme Dinge, die den Konflikt zwar nicht lösen werden, aber einfrieren könnten, sodass es möglicherweise unter einer zukünftigen russischen Regierung - nach Putin - zu einer Lösung des Konflikts kommen könnte, sagt Johannes Varwick.
"Zugleich lassen ihn [Putin] die Waffenlieferungen auch offenkundig unbeeindruckt."
Johannes Varwick weiß, dass der Ansatz, ein schnelleres Kriegsende durch diplomatische Zugeständnisse zu erlangen, von Kritikern mit dem Appeasement-Argument als feige kritisieren werden könnte. Den Vorwurf, dass man in solch einem Fall nicht für die eigenen Werte und Interessen einstehe, könne man zwar nicht komplett ausräumen, sagt der Politikwissenschaftler. Er hält weniger Waffen trotzdem für die bessere Lösung.
Denn wenn am Ende das gleiche Ergebnis herauskommt, ergibt es aus seiner Sicht keinen Sinn, immer weiter zu kämpfen mit tausenden Toten und traumatisierten Menschen. Die Waffenlieferungen tragen in dieser Hinsicht nur zu einer Verlängerung bei, sagt der Politikwissenschaftler.
"Ich zweifle an, dass die Ukraine eine gewisse Chance hat, diesen Krieg zu gewinnen oder zu bestehen."
Nichtsdestotrotz müsse Russland gegenüber deutlich signalisiert werden, dass der Krieg gegen die Ukraine Konsequenzen habe und inakzeptabel sei, sagt der Politikwissenschaftler. Genau das passiere auch im Augenblick: Viele Länder haben härteste Sanktionen gegen das Land verhängt. Russland sei diplomatisch, politisch, ökonomisch völlig isoliert in der internationalen Politik.
Waffen an die Ukraine zu liefern, obwohl Deutschland nicht gegen Russland in den Krieg ziehen möchten, sei eine halbherzige Haltung, kritisiert Johannes Varwick außerdem. Denn durch unsere Waffenlieferungen führten wir einen Stellvertreterkrieg auf Kosten der Ukrainerinnen und Ukrainer.