Katastrophen-MedizinMedizin und Recht: Es werden mehr Menschen sterben

In Katastrophenfällen werden in Deutschland künftig mehr Menschen sterben. Davon sind die Rechtsphilosophin Tatjana Hörnle und andere Juristen überzeugt. Im Gegensatz zur Corona-Pandemie gelten nun andere Richtlinien.

Während Corona haben sowohl Fachleute als auch Politiker über die Triage diskutiert. Wurden Krankenhausbetten knapp, stellte sich die Frage, ob man nicht eher das siebenjährige Kind mit guten Überlebenschancen auf die Intensivstation verlegen und den Tod eines 94-Jährigen mit geringeren Chancen in Kauf nehmen sollte.

Die Möglichkeit, eine solche Entscheidung abzuwägen, ist den Medizinern in Deutschland inzwischen streng verboten. Die neuen Gesetze und Richtlinien lassen keinen Spielraum mehr zu: Wer zuerst auf der Intensivstation liegt, bleibt auch dort – egal, wer noch vor der Tür wartet.

"Wer kurz vorher kommt, bevor alle Plätze belegt sind, kann versorgt werden. Wer etwas später kommt, wird nicht mehr versorgt."
Tatjana Hörnle, Rechtswissenschaftlerin

Mitunter genüge also ein kleiner Zeitvorsprung, um das Überlebensrennen zu gewinnen, so Tatjana Hörnle.

Ärzte sind zur Untätigkeit verdammt

Nach medizinisch-ethischen Gesichtspunkten dürfen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland in derartigen Fällen nicht mehr selbst entscheiden. Im Gegenteil: Tun sie das, machen sie sich mitunter des Totschlags schuldig.

Hintergrund der umstrittenen Neuregelung sind das Infektionsschutzgesetz von 2022 sowie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Für derartige Veränderungen im Denken führt die Wissenschaftlerin auch die Luftsicherheit an. Drohen Terroristen damit, ein Flugzeug mit fünfzig Passagieren auf ein Fußballstadion mit zehntausenden Besuchern abstürzen zu lassen, darf dieses nicht mehr abgeschossen werden. "Es werden mehr Menschen sterben", sagt auch dazu nicht nur Tatjana Hörnle.

Tatjana Hörnle ist Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Sie leitet in Freiburg die Abteilung Strafrecht. Ebenso ist sie Honorarprofessorin an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, für die sie ihren Vortrag gehalten hat. Und zwar am 14. November 2023 innerhalb der Veranstaltungsreihe "Denken, Forschen, Urteilen: Aufklärung in den Wissenschaften heute". Der Titel: "(Anti-)Konsequentialismus im Strafrecht".

Ihr wollt den Hörsaal live erleben? Am 11. Oktober 2024 sind wir in Berlin! Hier gibt es Infos und einen Link zu den Tickets. Am 01. November 2024 machen wir auch einen Live-Podcast in Halle – der Eintritt ist frei. Die Infos dazu gibt's hier.