Soziale GerechtigkeitJeremias Thiel: "Armut bedeutet, dass du Lebensfreude verlierst"
Jeremias Thiel weiß, wie sich Armut anfühlt. Seine Eltern sind langzeitarbeitslos, das Geld ist immer knapp. Mit elf Jahren geht er von zu Hause weg und zieht in ein Jugendhaus. Heute studiert er in den USA Politik- und Umweltwissenschaft. Und er hat ein Buch geschrieben. Jeremias will etwas tun gegen die Armut in unserer Gesellschaft.
Jeremias Thiel ist in die Armut hineingeboren. Dass er arm ist, hat er erstmals richtig am Ende seiner Grundschulzeit gemerkt, erzählt er. Damals wurden die Empfehlungen für die weiterführende Schule ausgesprochen. Jeremias war voller Hoffnung, dass er fürs Gymnasium empfohlen würde, bekam dann aber nur eine Empfehlung für die Gesamtschule. Das war niederschmetternd, erinnert er sich. Ihm sei klar gewesen, dass das nicht an seinen schulischen Leistungen lag.
Auch im Vergleich zu seinen Mitschülerinnen und -schülern merkte er irgendwann seine Armut. Er hatte einfach andere Möglichkeiten als sie, sagt er – weniger Möglichkeiten. Zum Beispiel konnten sie am Wochenende zum Fußball gehen, während er nur auf den Bolzplatz konnte.
"Ich hatte immer so ein Gefühl von Unwohlsein, weil natürlich klar ist: Von außen wusste man, woher ich komme. Aber desto mehr wollte ich das natürlich kompensieren."
Jeremias sagt, er hat seine Eltern nie arbeiten sehen, sie hätten immer von ALG II gelebt. Die Gründe dafür sind vielschichtig, erklärt er. Jeremias Vater wurde von dessen Vater aus der Schule genommen, damit er Geld verdient, und auch seine Mutter kam nicht aus besten Verhältnissen, konnte nur den Hauptschulabschluss machen. Beide Elternteile seien psychisch-sozial krank - der Vater depressiv, die Mutter lange glücksspielsüchtig. Aus dieser Verfassung heraus sei es nahezu unmöglich, wieder den Eintritt in die Arbeitswelt zu finden.
"Ich glaube, dass sich der Staat im Konzept 'Agenda 2010' ein bisschen vertan hat im Sinne von: Wie fördere ich die Menschen in ihren Bedürfnissen?"
Staatliche Hilfsmaßnahmen griffen nicht, so Jeremias. Die damalige Idee, "Fördern und Fordern" funktionierte bei seinen Eltern einfach nicht, meint er. Darüber, wie man man die Menschen auffordert, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten, habe man sich viele Gedanken gemacht, aber die Frage des Förderns sei bei der 'Agenda 2010' zu kurz gekommen. Deshalb gibt es heute so viele Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit, glaubt er.
Armut wird vererbt
Armut wird von Generation zu Generation weitergegeben, fährt Jeremias fort, das sei ein allgegenwärtiges Problem. Und: Sozial benachteiligte Kinder, wie er eines war, seien auch in der Schule benachteiligt.
Das liegt, so glaubt er, auch an dem Verhältnis Lehrer-Schüler-Zahl, vor allem in sozialen Brennpunkten. Individuelle Förderung sei da fast nie möglich. Außerdem hätten Lehrerinnen und Lehrer auch soziale Vorurteile, die zu schlechteren Bewertungen für sozial schwächere Kinder führen, das zeigten auch Studien.
"Ich habe Hilfe bekommen. Und für die bin ich sehr, sehr dankbar."
Er selbst hatte Glück, erzählt er im Interview: ln der zweiten Klasse zeigte er aufgrund der Situation zu Hause Verhaltensauffälligkeiten. Seine damalige Klassenlehrerin kontaktierte das Jugendamt, das die Familie ohnehin auf dem Schirm hatte. Als dann 2012 die Situation bei seinen Eltern endgültig kippte, zog er in eine SOS-Kinderdorf-Jugendeinrichtung. Elf Jahre war er alt, als er sich dazu entschied. Im Jugendhaus lebte er dann, bis er 16 war.
Für ihn war es dort schlagartig besser, erinnert er sich, obwohl es eben eine Jugendeinrichtung war, in der die Betreuer und Betreuerinnen für ihre Arbeit und Fürsorge bezahlt werden. Aber er habe eine tolle Zeit gehabt im Jugendhaus. Dort habe er vor allem auch gelernt, wie breit und vielfältig unsere Gesellschaft ist: "Ich glaube auch, dass mir da Einblicke ermöglicht worden sind, die so vielen vorenthalten sind." Auch dafür ist er dankbar.
"Das macht natürlich schon etwas mit einem jungen Menschen, dieses Wissen, dass die Betreuerinnen und Betreuer bezahlt werden für das, was eigentlich Eltern tun."
Diese Entscheidung als Elfjähriger von zu Hause weg zu gehen, hat sein Leben massiv beeinflusst, sagt Jeremias, und beeinflusst es bis heute. Die Klasse, aus der er komme, bleibe aber immer ein Teil von ihm, sie spiele immer eine Rolle – im Alltag, bei der Familie seiner Freundin, auch in seinem Denken: Es falle ihm immer noch schwer zu sagen, dass er Ambitionen hat, einen Doktor zu machen. Andere fühlten sich in ihren Ambitionen viel sicherer.
Jeremias spricht übrigens ganz bewusst von "Klasse", weil er davon überzeugt ist, dass wir nach wie vor in Klassen leben: ALG II-Empfänger, Mittelschicht, ein bisschen Oberschicht. Das sei längst nicht überwunden.
"Der Sprung in eine andere Klasse ist immer noch die Ausnahme."
Dank Umzug und Unterstützung von außen konnte Jeremias seinen eigenen Weg einschlagen. Auf dem United World College machte er mit einem Vollstipendium sein Abitur, zur Zeit studiert er mit einem Folge-Vollstipendium in den USA Politik- und Umweltwissenschaften mit Fokus auf internationale Beziehungen. Später möchte er gerne in Vergleichender Regierungslehre oder Armutsforschung promovieren.
Er hat auch ein Buch geschrieben: "Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance - Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss". Mit dem Buch, seiner Medienpräsenz und später als Politikwissenschaftler oder auch Politiker hofft er, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie es Kindern und Jugendlichen in Armut geht und was Armut bedeutet. Denn so wie es ihm ging, geht es vielen Kindern und Jugendlichen in Deutschland, sagt Jeremias: Jedes fünfte Kind oder Jugendliche werde in Deutschland in Armut hinein geboren – das sind Millionen.
"Die wirtschaftliche Implikation von Armut ist immens, wenn du überlegst, wieviel Fähigkeiten und wieviel Talente einfach verloren gehen aufgrund der Tatsache, dass man dieses soziale Label hat."
Im Interview mit Sebastian Sonntag erzählt Jeremias Thiel auch, warum er mit 14 Jahren in die SPD eingetreten ist, was er als Kanzler verändern würde und vor allem, wie er Armut bekämpfen würde. Eine seiner Ideen zum Beispiel: ein Talentfonds für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche, damit fehlendes Geld nicht gleichbedeutend ist mit fehlenden Chancen und fehlender Förderung. Das ganze Gespräch hört ihr, wenn ihr auf Play klickt. Und zu Raten gibt es wie immer auch was.