Innovation und ForschungsfreiheitWir brauchen unnützes Wissen
In seinem Vortrag hält der Chemiker Andreas Kirschning ein Plädoyer für die Grundlagenforschung und erklärt, was Forschung aus reinem Erkenntnisinteresse mit Wissensbildung und Innovation zu tun hat.
Als der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz 1697 in einem Brief sein religiös inspiriertes duales Zahlensystem vorstellte, sahen weder er noch andere einen wirklichen Nutzen oder die Möglichkeit einer konkreten Anwendung darin. Was daraus geworden ist, wissen wir: Rechenmaschinen haben unsere Welt komplett umgekrempelt.
"Viele Durchbrüche in der Forschung sind nicht planbar und können nicht geplant werden."
Aber Leibniz und seine Nullen und Einsen sind nicht das einzige Beispiel dafür, dass wissenschaftliche Arbeit aus reiner Neugier heraus und ohne erkennbares Anwendungsziel wertvoll sein kann. Der Chemiker Andreas Kirschning erzählt in seinem Vortrag etwa die Geschichte von Katalin Karikó.
"Letztlich ist die von Neugier getriebene Forschung der Motor, der zu Innovationen führt."
Die ungarisch-amerikanische Forscherin hat lange Zeit gegen große Widerstände an Boten-RNA geforscht, musste deshalb Rückschritte in ihrer Karriere hinnehmen und um Förderung kämpfen. Ihre Arbeitgeber meinten, ihre Forschung lohne nicht.
(Scheinbar) Nutzloses Wissen ist der Treibstoff für Innovationen
Heute ist Karikó bekannt als die "Mutter des mRna-Verfahrens" und wird als potentielle Nobelpreisträgerin gehandelt. Die Covid-19-Impfstoffe von Biontech und Moderna basieren auf einer von Karikó mitentwickelten Technologie. Ohne ihre lange Zeit verkannte Forschung sähe die Welt mit Corona heute anders aus.
"Erkenntnis entsteht, wenn intellektuelles Streben von den Zwängen konkreter Anwendungen und eng gesteckter Ziele befreit ist."
Zufall, Neugier, Experimentierfreudigkeit – das alles sind essenzielle Zutaten für Wissensgewinn. Und: Streben nach Wissen um seiner selbst willen ist wichtig. Das sind zentrale Botschaften, die Andreas Kirschning aus diesen und weiteren spannenden Forschungsbiografien ableitet.
Im Vortrag erklärt der Chemieprofessor anhand solcher Beispiele, warum die Frage nach Anwendungsmöglichkeiten und Nützlichkeit die Forschungsfreiheit beschränkt und damit auch Erkenntnisse verhindern kann.
Forschungsfreiheit braucht Zweckfreiheit
Zum Beispiel: Wenn die Vergabe von Förderung und Mitteln von erwartbarer Nützlichkeit abhängig gemacht wird und die Relevanz von Forschung an Publikationen, Zitationen und eingeworbenen Drittmitteln bemessen wird, dann wirkt das wie Scheuklappen auf das System Wissenschaft: Es finde nur noch statt, so Kirschning, was an bereits Bekanntes anknüpft. Explorative Ansätze, die unbekanntes Terrain erforschen, hätten keine Chance mehr finanziert zu werden. Unerwartetes bliebe deswegen unentdeckt.
"Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen."
Andreas Kirschning ist Professor für Organische Chemie an der Leibniz Universität Hannover. Seinen Vortrag mit dem Titel "Über die Nützlichkeit von nutzlosem Wissen – oder: Wie frei ist die Wissenschaft?" hat er eigens für den Hörsaal eingesprochen, und zwar am 31. Juli 2022. In gekürzter Form hat er diesen Vortrag am 29. Januar 2022 als Neujahrsvortrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (BWG) gehalten.
Update: Am 02. Oktober 2023 hat Katalin Karikó zusammen mit Drew Weissman für ihre mRNA-Forschung den Medizin-Nobelpreis erhalten.