Die Faszination des SportschauensLiteraturwissenschaftler: "Das Stadion ist der Ort einer Feier des ganzen Lebens"
Millionen Menschen weltweit genießen es, anderen beim Sport zuzuschauen. Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht – der in Zeiten von Geisterspielen selbst schmerzlich seine Stadionbesuche vermisst – blickt in seinem Vortrag zurück in die Geschichte des Zuschauersports und sagt: Sportschauen ist eine ästhetische Erfahrung und im Grunde vergleichbar mit der Begeisterung für Konzerte oder Theater.
Wenn dieser Mann über Sport redet, merkt jeder direkt, dass er ihn selbst lebt und liebt: Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für vergleichende Literaturwissenschaft im US-amerikanischen Stanford – und er ist Borussia-Dortmund-Fan.
Noch lieber, als sich den liebgewonnenen Collegesport anzusehen, steht er in der wogenden Masse der legendären Dortmunder "Süd". Und wenn er davon erzählt, ist seine Gänsehaut ein bisschen ansteckend.
"Die Schönheit und manchmal auch die Erhabenheit von solchen Momenten im Sport ist das, was uns an den Sport bindet."
In seinem Vortrag erklärt Hans Ulrich Gumbrecht, was das Zuschauen von
Sport – sei es nun Leichtathletik, Mannschaftssport wie Fußball oder
andere Sportarten – seiner Ansicht nach so faszinierend macht.
Sport als ästhetisches Erlebnis
In Bezug auf Immanuel Kants Gedanken zu Ästhetik stellt er die These auf, dass Sportschauen eine ästhetische Erfahrung ist: Schönheit, Anmut, Beherrschung, Erhabenheit – das alles binde uns viel mehr, als dass unsere Mannschaft, unsere Sportlerin oder unser Athlet den Sieg nach Hause trägt.
"In einer Zeit der totalen medialen Übertragung sind die Stadien zu einem Ort des Rituals geworden."
Nach einem Exkurs in die Geschichte des Zuschauersports, der ihn bis zu den Wagenrennen der klassischen Antike führt, kommt er auf seine große Leidenschaft zu sprechen: das Fußballstadion, seine "Süd".
Wettbewerb, Konfrontation, Schicksal und nicht zuletzt die Zuschauerinnen und Zuschauer als Masse wirken euphorisierend, glaubt er und gibt zu: "Ich habe eine
Sehnsucht nach dieser Intensität dieses Stadions."
"Der Sport in seiner heutigen Intensität, nimmt als Zuschauersport und als praktizierter Sport vielleicht einen größeren Raum in unserer Kultur ein, als das je vorher der Fall war."
Hans Ulrich Gumbrecht ist Romanist, Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker. Unter anderem hat er Komparatistik, also vergleichende Literaturwissenschaft, an der Stanford University gelehrt, seit 2018 ist er emeritiert. Zum Thema Faszination des Sports hat er 2015 die Schrift "Lob des Sports" herausgebracht; sein Essay über die Stadien, über das er im Vortrag spricht, ist jüngst unter dem Titel "Crowds - Das Stadion als Ritual von Intensität" erschienen.
Seinen Vortrag "Sport – eine kulturwissenschaftliche Betrachtung" hat er am 1. April 2020 im Rahmen der Online-Vortragsreihe VHS Wissen Live gehalten, die gemeinsam von der Volkshochschule im Landkreis Erding und der Volkshochschule Südost im Landkreis München veranstaltet wird.