UngleichheitVorwärts in die Vergangenheit
Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Auch in Deutschland ist die Vermögensungleichheit enorm ausgeprägt. Dabei wurde an den Übergang von der Industrie- zur Informations- und Dienstleistungsgesellschaft mal die Hoffnung geknüpft, dass die Kluft zwischen Arm und Reich kleiner werden würde. Fehlanzeige! Stattdessen fallen wir in eine Art vormoderne Ständegesellschaft zurück, meint Sighard Neckel.
"In zahlreichen westlichen Ländern findet gegenwärtig ein sozialer Wandel statt, der neofeudale Privilegien für vermögende Klassen etabliert, während präkarisierte soziale Gruppen mit Verarmung und Exklusion konfrontiert sind", beobachtet der Hamburger Soziologe. Auch in Deutschland lässt sich das beobachten: Die reichsten 10 Prozent in Deutschland besitzen fast 60 Prozent des gesamten Nettovermögens hierzulande, so eine Statistik der Deutschen Bundesbank aus dem Jahr 2014, die durch zahlreiche andere Statistiken bestätigt wird. Diese Kluft, die gegenwärtig größer wird statt kleiner, besteht allerdings nicht nur in Vermögensverteilung, so Sighard Neckel, sondern generell in unseren Teilhabechancen:
"Der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus hat offensichtlich Muster in der Verteilung von Wohlstand, Muster in der Verteilung von Lebenschancen und Macht mit sich gebracht, die an vormoderne Zeiten erinnern."
In Anlehnung an Jürgen Habermas begreift er diesen Prozess als Refeudalisierung und beschreibt diese gegenläufige Entwicklung von kapitalistischer Modernisierung auf der einen und sozialstrukturellem Rückschritt auf der anderen Seite als Paradox: Vorwärts in die Vergangenheit kurz gesagt. An der Spitze der Sozialstruktur sei eine neue Reichtumsoligarchie entstanden, die auf einem historisch einmaligen Vermögenszuwachs basiere.
Rechtlosigkeit und persönliche Kontrolle
"Dieser beispiellose Wohlstand geht nicht auf moderne ökonomische Prinzipien wie Leistungserbringung, Wettbewerb und Markterfolgen zurück, wie es dem Selbstverständnis einer bürgerlich-kapitalistischen Sozialordnung entspräche, sondern geht zurück auf Strategie der Privilegiensicherung, die ihren Ursprung in vorkapitalistischen Zeiten haben", so Neckel. Und weiter: In die Arbeitsverhältnisse seien Formen von Rechtslosigkeit und persönlicher Kontrolle eingezogen, die den modernen Normen rechtlicher Freiheit beim Eintritt in den Arbeitsmarkt zuwiderlaufen. So diagnostiziert er etwa "Ausbeutung von Arbeitskräften als bloßes Material" und "moderne Formen der Schuldknechtschaft".
"In neuen einfachen Dienstleistungsbereichen ist ein sogenannter 'Dumping Ground' der modernen Arbeitsgesellschaft entstanden, in dem die Löhne nicht mehr existenzsichernd sind und die dort Beschäftigten sich vollkommen jenseits aller Möglichkeiten von sozialer Sicherung, Qualifizierung und der Aussicht auf beruflichen Aufstieg verdingen."
Sighard Neckel ist Professor für Gesellschaftsanalyse und Sozialer Wandel an der Universität Hamburg. Zuvor hat er bereits an zahlreichen anderen Universitäten gewirkt, etwa in Gießen, Frankfurt oder Wien. Bereits seit seiner Promotion Anfang der 90er befasste er sich mit dem Thema soziale Ungleichheit. Zu den weiteren Schwerpunkten seiner Arbeit zählen die Soziologie des Ökonomischen sowie die Emotionssoziologie.
"Neofeudalismus - Die Wiederkehr der Ständegesellschaft" so heißt sein Vortrag, der am 30. Mai 2016 im Rahmen der Reihe "Auf der Höhe - Diagnosen zur Zeit" der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung aufgezeichnet wurde. Entlang eines Schlagwort-Alphabets - von A wie Authentizität über nun N wie Neofeudalismus bis Z wie Zombie - lädt die Stiftung Denker und Forscher ein, um den Zustand unserer Gegenwart zu analysieren.
"Wir haben es mit einem interessanten und wahrscheinlich in dieser Weise bisher einzigartigen Vorgang zu tun, wo wir auf der einen Seite die Herausbildung dieser weltweiten Machtzentren haben, die teilweise tatsächlich in Privathand sind, und auf der anderen Seite über die digitale Kommunikation so etwas wie eine nicht mehr enden wollende Segregation des öffentlichen Raumes sich vollzieht."
- Sighard Neckel zum Neofeudalismus | Workingpaper des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung
- Sighard Neckel zum Begriff der Refeudalisierung | Antrittsvorlesung im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt
Weitere Vorträge aus der Reihe "Auf der Höhe" im Hörsaal
- Lebensstil - Weltflucht als Zeitgeist | Vortrag der Journalistin Julia Friedrichs
- Stadtsoziologie - Urbane Verdrändung | Vortrag des Soziologen Martin Kronauer
- Identitäre Bewegung - Die erstaunliche Renaissance rechten Denkens | Vortrag des Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik
- Ideenzwang - Die Diktatur der Kreativität | Vortrag des Kultursoziologen Andreas Reckwitz