BandengewaltChaos in Haiti ist Folge der Kolonialzeit
Der Karibikstaat Haiti leidet unter einer seit Jahren andauernden Krise, aktuell eskaliert die Gewalt. Die instabile politische Lage ist eine Folge der französischen Kolonialzeit. Von der lösten die Menschen in Haiti sich einst in einer einzigartigen Revolution, erklärt der Historiker Oliver Gliech.
Bandengewalt und Ausnahmezustand: Der Karibikstaat Haiti ist aktuell wieder in den Schlagzeilen. Nach solchen gewaltvollen Eskalationen ist Haiti in den Schlagzeilen – verschwindet dann meist aber wieder schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung.
Um die Hintergründe der seit Jahren andauernden Krise zu verstehen, ist es hilfreich einen Blick in die Geschichte des Landes zu werfen. Ein Wendepunkt ist 1791. In dem Jahr schaffen die Haitianer*innen die einzige erfolgreiche Revolution versklavter Menschen der Weltgeschichte.
1804: Haiti wird eigene Schwarze Republik
Heute gilt Haiti als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre. Damals jedoch handelte es ich um eine auf Sklavenarbeit beruhende, reiche und gewinnträchtige Plantagenwirtschaft, in der Zucker und Kaffee angebaut wurden, erklärt Oliver Gliech, Dozent am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin.
Die Französische Revolution 1789 hatte damals auch Folgen für die Karibik: Die Verhältnisse wurden destabilisiert, die Sklaven ergriffen die Chance, zerstörten die weiße Ordnung, übernahmen die Macht und riefen 1804 eine eigene Schwarze Republik aus, erklärt der Historiker.
"Man hat den Sklaven wenig gelassen. Die hatten nur ihren eigenen Körper, als die Freiheit erfochten war."
Die Zuckerplantagen wurden zerstört, der Kaffeeanbau hingegen nicht. Man hätte darauf eine neue Nation aufbauen können, sagt Oliver Gliech, weiß aber auch, wo es haperte: "Es gab rassistische Vorbehalte gegen eine schwarze Nation. Das Land war politisch isoliert." Internationale Unterstützung fehlte.
Frankreich akzeptierte die Unabhängig Haitis 1825 nur unter der Bedingung, dass Haiti eine sehr hohe Entschädigungsleistung an die ehemaligen Plantageneigentümer leistet, erklärt der Historiker. "Das war eine schwere Hypothek."
Die Kolonialherren hinterließen dann sehr einseitige Wirtschafts- und Sozialstrukturen. "Das war alles auf den Export ausgerichtet, was die Kolonie dort aufgebaut hat", erläutert Oliver Gliech, "man hat den Sklaven wenig gelassen. Die hatten nur ihren eigenen Körper, als die Freiheit erfochten war."
Viele Hindernisse beim Aufbau einer Nation
Doch auch die haitianische Gesellschaft trage einen Teil der Verantwortung daran, dass sich nach der Unabhängigkeit die Bewohner*innen nicht zu einer Nation vereinten. Es gab eine Oberschicht: Die Nachkommen der weißen Sklavenhalter, die Kinder hatten mit schwarzen Sklavinnen. "Die wollten so leben, wie die alten Weißen. Die haben nur an ihren eigenen Vorteil gedacht. Deren Nachkommen sind immer noch eine ganz wichtige Führungsschicht in Haiti." Wer nur ans eigene Interesse denke, habe ein nationales Gemeinwohl gar nicht im Sinn, folgert der Historiker.
Ein weiterer Punkt erschwerte es in Haiti, die unterschiedlichen Menschen zu vereinen: Die Plantagen funktionierten deshalb so gut, weil dort Menschen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen zusammenarbeiten mussten. "Da hat man einzelne maßgeblich bevorzugt und Hassgefühle unter den einzelnen kulturellen Gruppen geschürt", erklärt Oliver Gliech. Die Folge: Wenn die Gruppen untereinander nicht zusammenkommen und mit Konflikten und Differenzen beschäftigt sind, hatten zumindest die Plantagenbesitzer keine Sorge, dass sich ihre Sklaven zusammenschließen und gegen sie rebellieren.
Ein Beispiel: Die bei Weitem stärkste Gruppe, die aus der Region des heutigen Kongos stammte, wurde von allen wichtigen Funktionen ferngehalten. "Das haben die neuen Herren dann auch übernommen", sagt Oliver Gliech.
Militäreinsatz als Lösung?
Als Lösung schlägt der Historiker Oliver Gliech eine internationale Intervention, zum Beispiel von Kenia, unter dem Schutz der UN vor. Die Ordnung in dem Land sei weitgehend zusammengebrochen, sagt er. Es gibt zwar eine Regierung, aber keinen Präsidenten. "Das Land wird beherrscht von kriminellen Banden, die müssten erst einmal militärisch zerschlagen werden, um das Land zu stabilisieren."
Es gebe zwar eine sehr lebendige Zivilgesellschaft mit demokratischer Grundhaltung. "Aber solange da Banden mit Waffen in der Hand das ganze Land beherrschen, ist da keine Veränderung denkbar."
Ein militärisches Eingreifen bezeichnet Oliver Gliech als "die am wenigsten schlechte unter mehreren schlechten Optionen". Diejenigen in Haiti, die die Demokratie wiederherstellen wollen, sähen eine Intervention positiv, ergänzt Oliver Gliech. "Vor allem, wenn eine schwarze Macht interveniert und keine weiße."
Unser Foto zeigt ein mit Containern verbarrikadiertes Viertel in der Hauptstadt Port-au-Prince im Dezember 2023. Die Bewohner*innen versuchen sich so – schon seit längerem – vor Bandengewalt zu schützen.