Gewalt gegen FrauenWas der Fall Pelicot für andere Betroffene bedeutet
Gisèle Pelicot wurde zigfach von ihrem heutigen Ex-Mann und anderen Männern vergewaltigt und geht damit in die Öffentlichkeit. Gerade kommt der Prozess in Frankreich in die Schlussphase. Kann der Fall anderen Betroffenen helfen?
Über zehn Jahre lang soll Dominique Pelicot seine damalige Frau Gisèle Pelicot mit Medikamenten im Essen betäubt und missbraucht haben. Im Internet lud er auch andere Männer ein, sich an ihr zu vergehen. Die Taten filmte er. Der Fall kam ans Licht, als er verhaftet wurde, weil er Frauen unter den Rock fotografierte.
Für die Taten stehen Dominique Pelicot und weitere 50 Mitangeklagte vor Gericht – vielen von ihnen wird der Vorwurf schweren Vergewaltigung gemacht. Nur wenige Angeklagte haben die Taten gestanden. Die Mehrheit behauptet, von Pelicot manipuliert worden zu sein, der den Eindruck erweckt habe, seine Frau sei einverstanden und sie nehmen an ausschweifenden Sexualpraktiken des damaligen Ehepaares teil.
Gisèle Pelicot, die auf eigenen Wunsch einen öffentlichen Prozess wollte, wirkte nach ihrem Auftritt cor Gericht müde aber erleichtert, sagt unsere Frankreich-Korrespondentin Christiane Kaess. Der schwerste Teil der Verhandlung mit teils aggressiven Befragungen durch Anwälte der Angeklagten ist für sie vorbei. Vor dem Gerichtssaal wurde sie von Unterstützenden mit großem Applaus empfangen.
Gisèle Pelicot macht Betroffenen Mut
In Frankreich wie auch in anderen Ländern wird sexueller Missbrauch noch oft banalisiert. Der Prozess könnte helfen, dieses Problem stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und Veränderungen anzustoßen, glaubt Christiane. Gisèle Pelicot äußerte während des Prozesses die Hoffnung, dass ihr Vorgehen vor Gericht anderen Betroffenen von Gewalt Mut machen könnte, ebenfalls gegen ihre Täter auszusagen.
"Es ist unüblich, dass Betroffene sich gerade vor Gericht und auch in der Öffentlichkeit in dieser Präsenz und in dieser Stärke zeigen."
Charlotte Hirz ist klinische Psychologin und arbeitet bei LARA – einer Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt in Berlin. Hier können sich Opfer sexualisierter Gewalt auch anonym melden und erzählen, was passiert ist. Sie beobachtet den Fall Gisèle Pelicot und bewundert, wie die Frau mit ihrem Schicksal umgeht. Ihre Stärke und ihr Mut, als Betroffene so offen und stark in der Öffentlichkeit aufzutreten, sei selten.
Opfer von Gewalt: Scham ist eine Riesenthema
Für außenstehende Betroffene wirkt diese öffentlichen Verhandlung unterschiedlich, sagt Charlotte. Für manche ist die mediale Thematisierung belastend, da die Konfrontation mit Gewalt ein Trigger sein und bestehende Symptome verstärken könne. Auf der anderen Seite stärke Gisèle Pelicot viele Betroffene, indem sie öffentlich fordert, dass die Scham die Seite wechseln solle. Das könne ein Exempel statuieren, glaubt die Psychologin.
"Das Gisèle Pelicot sagt, die Scham soll die Seite wechseln, das ist so eine große Stärke. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen Betroffenen Mut macht und ein Exempel statuiert."
Scham spielt eine große Rolle für Betroffene sexualisierter Gewalt. Oft lernen weiblich sozialisierte Personen durch Sätze wie "Pass auf dich auf!" oder "Lauf nachts nicht alleine über die Straße!", dass sie für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sind, so Charlotte. Das könne das Gefühl hervorrufen, sich im Falle von Gewalt zu schämen, obwohl die Verantwortung immer bei der die Gewalt ausübenden Person liege.
Häufig gebe es auch Betroffene, die wissen, was sie wollen und Grenzen setzen können, es aber in bestimmten Momenten nicht schafften, sich zu wehren. Auch das könne Schamgefühle hervorrufen, da sie denken, sie hätten sich nicht genug geschützt. Dabei ist es wichtig, so die Psychologin, dies aus einer traumasensiblen Perspektive zu sehen. In akuten Gefahrensituationen verfallen viele in den Freeze-Modus, erklärt sie: ein Überlebensmechanismus, der schwer zu verstehen ist, wenn man glaubt, sich eigentlich wehren zu können, so die Psychologin.
Gerichtsprozesse sind sehr belastend
Die Psychologin begleitet Gewaltopfer auch zu Gerichtsprozessen, die in der Regel mindestens zwei Jahre dauern können. Die Traumafolgen der Gewalt und die langandauernde Auseinandersetzung mit dem Thema vor Gericht erschweren die Situation für Betroffene erheblich, sagt sie.
Gerichtsprozesse sind für Gewaltopfer außerdem belastend, da sie oft in einem Umfeld stattfinden, das nicht traumasensibel ist. Fragen wie "Warum haben Sie sich nicht gewehrt?" würden die gesellschaftliche Verantwortungsschiebung widerspiegeln und die Situation für die Betroffenen noch schwieriger machen.
Ein Femizid pro Tag in Deutschland
Laut Zahlen des Bundeskriminalamts zu Gewalttaten gegen Frauen wird in Deutschland etwa ein Femizid pro Tag begangen. Mehr als 50.000 Frauen wurden demnach im Jahr 2023 Opfer von Sexualstraftaten – die Zahlen liegen aber wahrscheinlich noch höher. Denn: Viele Betroffene entscheiden sich gegen eine Anzeige, da die Chancen auf eine Verurteilung im aktuellen Rechtssystem oft gering sind, sagt Charlotte Hirz.
"Wir begleiten viele Personen, die sich entscheiden, keine Anzeige zu machen, weil unser Rechtssystem darauf basiert, im Zweifel für den Angeklagten zu plädieren."
Soforthilfe: Not kann nicht warten
Um Opfer besser zu unterstützen, brauche es eine einheitlichere Versorgung, so die Psychologin. Nach Übergriffen seien medizinische Erstversorgung und gerichtssichere Spurensicherung zentral, letzteres aber nicht überall möglich. Problem: Bei sedierenden Substanzen sinkt die Nachweisbarkeit mit jeder Stunde.
Dazu kämen Probleme bei der psychosozialen Betreuung. Diese erfolge oft getrennt von medizinischen Untersuchungen, mit Wartezeiten von bis zu zwei Monaten. Juristische Hilfe wiederum bieten andere Stellen, die unabhängig arbeiten und teils lange Wartezeiten haben. Für Betroffene im Schockzustand sind diese Hürden enorm, so Charlotte.
Und last but not least: Es geht auch um Prävention. Wie können wir verhindern, dass Menschen Straftaten begehen? Warum besuchen Männer Seiten, auf denen Vergewaltigungen angeboten werden? Dass es dafür eine Nachfrage gibt, ist erschreckend, sagt Charlotte Hirz.