FamilieWarum die Beziehung zu Geschwistern so wehtun kann
Andrea hat zu ihrer älteren Schwester den Kontakt abgebrochen, um sich selbst zu schützen. Wie wir gesunde Geschwisterbeziehungen führen können, erklärt uns Familientherapeut Jochen Rögelein. Außerdem schauen wir auf eine aktuelle Studie zum Thema mentale Gesundheit und Geschwister.
Eine von Angst geprägte Kindheit haben Andrea und ihre Schwester erlebt: Sie durften die Wohnung nicht verlassen und sich auch nicht frei darin bewegen. Sie sollten in ihren Zimmern bleiben und still sein. In dieser schwierigen Situation hat Andreas acht Jahre ältere Schwester die Verantwortung für ihre kleine Schwester übernommen. Sie hat ihr Dinge beigebracht und ihr Entscheidungen abgenommen.
Schieflage in der geschwisterlichen Beziehung
Auch als Andrea älter wurde, blieb diese Dynamik in ihrer Beziehung bestehen. Andreas Schwester nahm Einfluss auf Andreas Berufswahl, auf die Freundschaften, die sie schloss – selbst die Frage, welche Kamera sich Andrea kaufen sollte, wollte ihre Schwester für sie entscheiden.
Mit Anfang 20 teilte sich Andrea noch das Bankkonto mit ihrer Schwester und hatte das Gefühl, dass sie keine Entscheidungsmacht in ihrem eigenen Leben besaß. Statt das Verhalten ihrer Schwester zu hinterfragen, führte die Bevormundung dazu, dass Andrea sich selbst infragestellte: Sie fragte sich, wieso sie nicht so sein konnte, wie ihre Schwester das gerne für sie wollte. Andrea fing an, den Fehler bei sich selbst zu suchen.
"Seit dem Kontaktabbruch träume ich fast jede Nacht von meiner Schwester. Das ist das schlimmste Trauma bisher in meinem Leben."
Mit Mitte 20 wurde Andrea zum ersten Mal bewusst, dass eine Schieflage in der Beziehung zu ihrer Schwester bestand. Als ihr das mehr und mehr klar wurde, entschied sie irgendwann ganz bewusst, den Kontakt zu ihrer Schwester abzubrechen. Um eigenständig entscheiden und handeln zu können.
Andrea findet keinen Raum für ihre Entwicklung
Ein schwieriger Schritt, der Andrea sehr beschäftigt, denn sie träumt nahezu täglich von ihrer Schwester. Auch wenn dieser Ablösungsprozess schmerzhaft ist, hatte Andrea dadurch die Chance, sich selbst zu finden. Sie sei dadurch ein ganz neuer Mensch geworden.
"Je älter ich wurde, umso mehr wurde mir klar, dass irgendwas an unserem Verhältnis nicht stimmt. Das erste Mal, wo mir das richtig bewusst geworden ist, war ich Mitte 20."
Ein Kontaktabbruch kann Menschen helfen, die in einer chronisch-dysfunktionalen Beziehung feststecken, sagt Jochen Rögelein. Eine Abwendung von einer Person ist manchmal das letzte Mittel, damit man seinen Frieden finden könne, so der Familientherapeut. An sich sieht er es aber als positiv an, Zeit und Energie in eine Geschwisterbeziehung zu investieren. Denn sie habe das Potenzial, zu einer der längsten Verbindungen zu werden, die wir in unserem Leben führen.
Geschwisterbeziehungen können unseren Wunsch nach Zugehörigkeit befriedigen
Auch wenn uns Neid und Eifersucht angeboren zu sein scheinen und das auch häufig unter Geschwistern zu Konflikten führen kann, so können diese Beziehung auch dazu beitragen, dass wir uns zugehörig fühlen. Jochen Rögelein sagt, dass Anthropologen davon ausgehen, dass der Wunsch nach Zugehörigkeit eines der stärksten Motive ist, das dem Menschsein zugrundeliegt.
Beziehungen zu anderen Menschen, also auch zu Geschwistern, haben auch immer etwas mit Interesse an dieser Person zu tun, sagt Jochen Rögelein. Das heißt, dass wir nicht an unserem eigenen Bild von einer anderen Person festhalten, sondern dass wir dieses Bild immer wieder überprüfen, indem wir mit der anderen Person in den Austausch gehen.
Schlechtere mentale Verfassung, wenn Teens viele Geschwister haben
Eine Studie der Ohio State University, die Untersuchungen in den USA und in China durchgeführt hat, kam außerdem zu dem Ergebnis, dass eine große Anzahl von Geschwistern sich negativ auf die psychische Gesundheit der einzelnen Kinder im Teenageralter auswirken kann.
Dabei wurde berücksichtigt, wie die Altersabstände zwischen den Geschwistern und wie alt die anderen Geschwister waren. Bemerkenswert fanden die Studienautoren, dass sich das in beiden Ländern gleichermaßen nachweisen ließ.
Stephan Sting, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Klagenfurt, gibt allerdings zu bedenken, dass es viele Faktoren geben kann, die in die Studien-Ergebnisse hineinspielen können: zum Beispiel, dass Familien mit vielen Kindern möglicherweise aus ärmeren Verhältnissen kommen als Familien mit weniger Kindern.
Die mentale Gesundheit der Kinder kann also auch dadurch beeinflusst sein, dass ihnen nicht so viele Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung stehen wie Gleichaltrigen aus Familien mit weniger Kindern.