FreundschaftWie wir mit unterschiedlichen Bedürfnissen umgehen
Früher war für Sibel vor allem wichtig, dass es ihren Freunden gut geht. Ihre eigenen Bedürfnisse hat sie dabei ignoriert. Zum einen waren sie ihr nicht bewusst, zum anderen hatte das auch etwas mit fehlender Selbstliebe zu tun, sagt Sibel heute. Ihre Bedürfnisse zu äußern, ist ihr inzwischen wichtig.
Wir gehen mit Freunden ins Kino, in einen Film, von dem wir wissen, dass er uns mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gefallen wird. Wir gehen mit in eine Kneipe, obwohl draußen Minusgrade herrschen und wir uns lieber auf dem Sofa in eine Decke einkuscheln wollen. Wir haben keine Lust bei dröhnendem Bass den Freund oder die Freundin schon fast anbrüllen zu müssen, um sich über Nichtigkeiten auszutauschen. Und oft machen wir die Dinge, die uns widerstreben dann trotzdem. Der Freundschaft zuliebe.
"Ich hab immer hingenommen, wie die anderen das wollten. Ich hab versucht, möglichst den Bedürfnissen der anderen nachzugehen. Ich hab mich in einer Opferrolle wiedergefunden."
Manchmal sagen wir auch, dass wir eigentlich keine Lust haben, vor die Türe zu gehen oder unsere Ausflüchte sind zu subtil. Ein "ach, komm doch einfach mit, auf dem Sofa kannst du auch noch morgen sitzen", reicht meist aus, um uns umzustimmen.
Für Sibel war es früher oft so, dass sie gar nichts gesagt hat, auch wenn sie auf eine bestimmte Freizeitaktivität gar keine Lust hatte. Ja, vielmehr noch: Oft war ihr selbst gar nicht so klar, dass sie eigentlich lieber zu Hause bleiben würde, weil sie gar nicht erst in sich reingehorcht und auch die Vorschläge der Freund*innen gar nicht hinterfragt hat.
"Ich hab füher immer den Spruch gemacht: Ach, ist mir egal, du kannst entscheiden. Ich kannte meine eigenen Bedürfnisse gar nicht."
Viel wichtiger war für Sibel, dass es ihren Freund*innen gut geht, und dass diese sich wohlfühlen. Sie richtete ihren Fokus auf andere und ignorierte dabei die eigene Bedürfnisse. Zu dieser Zeit saß sie oft bis mitten in der Nacht mit Komilliton*innen bei meist belanglosen Gesprächen in der Uni auf ein Bier zusammen. Damals dachte Sibel noch von sich selbst, dass sie extrovertiert sei. Inzwischen hat sie herausgefunden, dass sie introvertiert ist, sich aber extrovertiert gegeben hat, um sich gut in die Gruppe einzufügen.
Die Pandemie gibt ihr Zeit zu reflektieren
Über die Jahre ist bei Sibel das Gefühl entstanden, dass sie den anderen gibt, was diese brauchen, aber das selten mal jemand auf sie und ihre Bedürfnisse eingeht. Heute bezeichnet sie das selbst als eine gewisse Opferhaltung, in die sie sich begeben hat. Ihr war damals nicht klar, dass sie selbst aktiv werden kann und sogar muss, wenn sie möchte, dass sich etwas an ihrer Situation ändert. Dass niemand auf sie eingehen kann, wenn sie nicht in der Lage ist, zu äußern, was sie sich wünscht. Diesen Zustand bezeichnet sie rückblickend als "un-selbstbestimmte" Lebensweise.
Journaling und Selbstreflexion im Lockdown
Auf die Dauer geht es Sibel nicht gut damit, ihre eigenen Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse zu ignorieren. Im Jahr 2020 kommt sie an einem Tiefpunkt an. Sie fühlt sich alleine und isoliert. Die Lockdowns geben ihr Zeit, über vieles nachzudenken und das aufzuschreiben. Durch das Journaling wird Sibel zum Beispiel klar, dass sie sich selbst gar nicht mochte. Sie entscheidet sich, die Zeit der Pandemie zu nutzen und ihr Leben aktiver selbst zu gestalten.
Dass sich etwas verändert hat, merkt Sibel auch daran, dass sie inzwischen ganz anders kommuniziert. Sie ist nun in der Lage, ihren Freunden ihre Gefühle und Wünsche mitzuteilen. Und wenn etwas nicht so ist, wie sie sich das vorstellt, zieht sie die Konsequenzen daraus, ohne die Schuld bei anderen zu suchen.
Manchmal gelingt es ihr, einen Kompromiss mit anderen zu finden, der ein gemeinsames Miteinander ermöglicht. In anderen Fällen trennen sich die Wege. Das findet Sibel aber auch in Ordnung und kann viel entspannter damit umgehen, als noch vor ein paar Jahren.
"Dadurch, dass ich mir selbst wichtiger wurde, habe ich dann gemerkt, was für mich nicht gut ist und mir keinen Spaß macht."
Die psychologische Psychotherapeutin Denise Ginzburg-Marku sagt, dass es zunächst wichtig ist, für uns selbst herauszufinden, was wir von einer Freundschaft erwarten. Dafür können wir uns zunächst ganz allgemein fragen, was sind Situationen, die mich glücklich machen und in welchen Situationen fühle ich mich nicht so wohl, sagt Denise Ginzburg-Marku. Weiterhin rät sie auch dazu, dass wir uns fragen, inwiefern Freundschaft uns dazu verhelfen kann, dass wir uns glücklich und ausgeglichen fühlen.
"Wenn ich natürlich festestelle: 'Puh, das ist eine Freundschaft, die mich sehr ausbrennen lässt oder sehr vereinnahmt' – aber ich wiederum wenig Gehör finde, wenn ich jemanden brauche, dann sollte ich mich fragen, inwiefern diese Freundschaft auch meine Bedürfnisse erfüllt."
Das Verhältnis von Geben und Nehmen muss dabei nicht immer ausgeglichen sein, sagt die psychologische Psychotherapeutin. Denn es kann immer mal sein, dass in einer Freundschaft einer von beiden aufgrund seiner Lebensumstände möglicherweise eine zeitlang nicht so viel Zeit zur Verfügung hat oder nicht so oft anrufen kann. Für eine gewisse Dauer ist ein Ungleichgewicht in dieser Hinsicht unproblematisch, sagt Denise Ginzburg-Marku.
Wenn wir allerdings dauerthaft das Gefühl haben, dass uns eine Freundschaft sehr einnimmt, gar auslaugt, dass wir das Gefühl haben ständig zu geben, immer in die Rolle kommen, dass wir zuhören sollen, andersherum aber kaum Gehör finden, dann sollten wir hinterfragen, ob unsere Bedürfnisse in dieser Freundschaft überhaupt wahrgenommen werden und eine Rolle spielen, sagt Denise Ginzberg-Marku.