Freiheit und EinsamkeitVon der Sehnsucht nach körperlicher Präsenz
Während der Pandemie ist uns der gemeinsame Raum abhandengekommen. Statt zusammen in einem Zimmer zu sitzen und miteinander zu reden, hocken wir alleine vor dem Bildschirm. Digital sind wir zwar verbunden, aber unsere Körper befinden sich an unterschiedlichen Orten. Ein Vortrag des Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht.
Wir müssen neu lernen, unseren Planeten als Raum zu bewohnen, sagt Hans Ulrich Gumbrecht. Das kann funktionieren, indem wir uns wieder daran erinnern, dass wir körperliche Wesen sind und dass wir mit unseren Körpern eine Präsenz auf dieser Erde haben.
Das kann uns auf unterschiedliche Art bewusst werden: Zum Beispiel mit ganz alltäglichen Dingen, indem wir morgens laufen gehen oder indem wir neue Kochrezepte ausprobieren und anschließend zusammen mit Freunden gemütlich essen.
"Wir bewegen uns heute in einem Universum von Kontingenz. Man kann alles auswählen, man kann sich für alles entscheiden. Everything has become a choice."
Gemeinsames Essen oder morgendliches Joggen können alltägliche Rituale sein, bei denen unsere körperliche Präsenz entscheidend ist. Auch der gemeinsam geteilte Raum und die Ästhetik spielen eine wichtige Rolle. Also etwa, wie das Essen aussieht und schmeckt oder wie der Tisch dabei gedeckt ist. All das kann uns etwas von dem existenziellen Halt geben, der uns fehlt, sagt Hans Ulrich Gumbrecht.
"Diese Kontingenz ist mit enormen potenziellen Gewinnen von Freiheit verbunden, aber zugleich erzeugt das eine individuelle Einsamkeit und eine Sehnsucht nach existenziellem Halt."
Wenn wir uns einsam fühlen, liegt das aber womöglich nicht nur an der Pandemie, sondern auch generell an der Freiheit, in der wir leben. Noch nie hatten so viele Menschen so große individuelle Freiheiten wie heute: Wir können uns unseren Beruf aussuchen und unsere Partner*innen, wir können entscheiden, wo wir wohnen, was wir anziehen und essen.
Doch genau diese Freiheit kann uns einsam machen. In einer Welt voller Möglichkeiten fühlen wir uns leicht verloren. Deshalb suchen wir Halt und Vertrautheit.
"Eine Möglichkeit, auf diese Sehnsucht zu reagieren, ist, das Bewohnen des Planeten als Raum neu zu lernen. Den Planeten so zu erleben, dass aus dem Universum der Kontingenz eine Welt der Vertrautheit werden kann."
Hans Ulrich Gumbrecht ist Literaturwissenschaftler und Publizist. Bis zu seiner Emeritierung hatte er den Lehrstuhl für Komparatistik an der Standford University in den USA inne. Sein Vortrag hat den Titel "Welche Präsenz braucht die Gegenwart? Über Dispositive der Reflexion und Rituale der Intensität". Er hat ihn am 27. Januar 2022 gehalten im Rahmen der Mosse Lectures an der Humboldt Universität zu Berlin.