Gewalt gegen FrauenFemizide in der Türkei: Was Aktivistinnen fordern
Gleich zwei brutale Femizide hat ein 19-Jähriger Anfang Oktober in Istanbul verübt, bevor er sich selbst das Leben nahm. Vielerorts gehen türkische Aktivistinnen nun auf die Straße und fordern von der Regierung, dass sie mehr Verantwortung übernimmt.
Ob in der Türkei, in Mexiko, Deutschland oder Großbritannien – wir berichten immer wieder über Gewalt gegen Frauen. Richtig sicher fühlen können sich Frauen in keinem Land, sagte die Juristin Katharina Miller von der European Women Lawyers Association in einem früheren Bericht.
In der Türkei wurden im vergangenen Jahr rund 315 Femizide und 250 weitere verdächtige Todesfälle dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Zum Vergleich: In Deutschland wurden laut UN Women Deutschland e.V. im selben Zeitraum 331 Frauen Opfer von versuchtem oder vollendetem Mord oder Totschlag – 2023 war hier ein neuer Höchststand.
Türkei ist 2021 aus Istanbul-Konvention ausgestiegen
Als die türkische Regierung im Jahr 2020 plante, aus der Istanbul-Konvention auszusteigen, einem völkerrechtlichen Vertrag, der Frauen vor Gewalt schützen soll, gingen viele Aktivist*innen auf die Straße. Dennoch kam es 2021 zum Austieg der Türkei aus dieser Vereinbarung.
"Die letzten Femizide waren sehr schlimm, aber so etwas passiert jeden Tag. Und die Regierung tut nichts dagegen, sie schützt die Männer."
Yankı ist eine von vielen Frauen, die in der Türkei wieder auf die Straße gehen. Gemeinsam mit etwa 300 anderen Frauen hat sie sich im Istanbuler Stadteil Kadıköy versammelt, um zu demonstrieren. Die Frauen rufen: "Wir werden Femizide stoppen!" Zum einen wollen sie den getöteten Frauen eine Stimme geben, sagt Yankı, zum anderen auf die akute Gefährdung von Frauen durch Männer hinweisen.
"Für türkische Frauen sind diese Proteste nichts Neues. Jedes Jahr kommt es zu Gewaltvorfällen und anschließend zu Protesten. Frauen sind in der Türkei jeden Tag und zu jedem Zeitpunkt Gewalt ausgesetzt."
Die türkischen Aktivistinnen sagen: Diese Situation hängt eindeutig damit zusammen, dass die Regierung aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist. Die Konvention sei das wichtigste Instrument zum Schutz von Frauen vor Gewalt gewesen.
Konservativer Kurs der AKP
Unsere Autorinnen Sarah Brendel und Azra Ceylan haben mit Frauenrechtlerinnen in der Türkei gesprochen. Diese sagen: Die AKP, Recep Tayyip Erdoğans Partei, hat in den letzten 23 Jahren einen sehr konservativen Kurs eingeschlagen. Dass das Land aus der Istanbul-Konvention ausgestiegen ist, liege daran, dass die Konvention das bestehende konservative Familienbild gefährdete, sagt etwa Güneş Fadime Akşahin von der türkischen Frauenrechtsorganisation "Genç Feministler Federasyonu" ("Verband junger Feministinnen").
"Mit diesem Schritt sagte die AKP den Frauen: Wenn ihr Gewalt ausgesetzt seid, werden wir auf der Seite der Männer stehen und euch nicht helfen."
Die Frauenrechtsorganisationen und Demonstrantinnen sehen die AKP-Regierung auch ganz klar in der Verantwortung, die Situation für Frauen zu verbessern. Nach dem Austritt aus der Istanbul-Konvention ist in der Türkei nur noch das Gesetz mit der Nummer 6284 übrig geblieben.
In der Türkei gibt es nur noch das Gesetz 6284
Es ist das einzige Instrument zum Schutz von Frauen vor männlicher Gewalt. Das Gesetz soll "Frauen schützen, die Gewalt erfahren oder von Gewalt bedroht sind“. Trotzdem werden Frauen in der Türkei immer wieder auch von Männern getötet, die zuvor als Gefährder der Polizei gemeldet worden waren. So etwas kann geschehen, weil das bestehende Gesetz nicht konsequent durchgesetzt wird.
Ob sich die türkische Regierung durch die Proteste unter Druck setzen lässt, dass sie das Gesetz 6284 in Zukunft konsequenter anwenden wird, ist schwer zu sagen. Unsere Autorin Azra Ceylan, die selbst in Istanbul wohnt, befürchtet, dass sich trotz der Demonstrationen auch künftig nicht viel ändern wird.
Hier findest du Hilfe
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