Märchengeschichten und MachtansprücheFantasieort "Orient"
Der Begriff "Orient" löst Assoziationen von fliegenden Teppichen und Märchenwelten aus und dient zugleich dazu, westliches Machtdenken zu zementieren. Ein Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Kathrin Wittler über einen vielschichtigen Begriff.
Für viele Künstler*innen und Schriftsteller*innen sei der Begriff "Orient" lange Zeit eine Art Zauberwort gewesen, erklärt Literaturwissenschaftlerin Kathrin Wittler in ihrem Vortrag. Der Orient als ein Sehnsuchtsort, eine Zuflucht vor der westlichen Moderne, eine Welt voller Magie, Gefühl und erotischer Fantasie. Doch gerade weil der Begriff vom Orient mit einer völlig anderen, geheimnisvollen Welt verbunden wird, dient er auch dazu, das eigene westliche Denken und die eigene Kultur abzugrenzen von dem vermeintlich "anderem".
"Der Orient ist nicht nur ein faszinierendes und kulturell wirksames Zauberwort, sondern zugleich auch ein heikles und moralisch fragwürdiges Zauberwort."
Ausbeutung und Anderssein
Die Vielschichtigkeit des Begriffs beginnt schon bei seiner ursprünglichen Bedeutung. Orient ist eigentlich erst einmal nur das, was östlich vom Sprechenden liegt. Doch schnell entwickelte der Begriff viele unterschiedliche Bedeutungen, als Fantasieort oder als Bezeichnung für bestimmte Staaten und Länder, deren Anderssein im Verhältnis zu europäischen Ländern durch den Begriff betont wurde.
In Deutschland wurden auch Jüdinnen und Juden immer wieder als "orientalisch" bezeichnet und dadurch vom Rest der Gesellschaft abgegrenzt. Wie sich jüdisch-deutsche Schriftsteller*innen in der Vergangenheit und auch heute mit dem Begriff des Orients auseinandergesetzt haben, erzählt Kathrin Wittler in ihrem Vortrag.
"Der Orient als Begriff setzt nicht nur Bilder und Lieder, Träume und Assoziationen frei. Er legitimiert auch Machtansprüche und Ausbeutung. Er suggeriert Überlegenheit und sichert die Grenzen zwischen dem eigenen und dem anderen."
Kathrin Wittler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Ihr Vortrag hat den Titel "'Orient' als Zauberwort? Zur deutsch-jüdischen Geschichte eines Begriffs". Sie hat ihn am 9. Oktober 2023 an der W.M. Blumenthal Akademie in Berlin gehalten im Rahmen der Vorlesungsreihe "Der erträumte Orient".