Werk und KünstlerFansein oder Canceln: Ziehen wir die Reißleine?

Ein Buch, ein Song, eine Serie haben uns jahrelang begleitet, doch dann verhält sich der Interpret oder die Autorin fragwürdig. Plötzlich fühlt es sich falsch an den Lieblingssong laut mitzugrölen – und wir fragen uns: Kann ich noch Fan sein?

Ash war jahrelang ein großer Harry-Potter-Fan. Als Ash den ersten Film der Reihe sieht, ist Ash regelrecht davon verzaubert. Die Bücher liest Ash mehrmals im Jahr, beim Quizabend wissen alle, dass Ash alle Fragen zu den Abenteuern des Zauberschülers beantworten kann.

Doch dann erfährt Ash das J.K. Rowling sich transphob auf Twitter äußert. Beim erneuten Lesen der Harry-Potter-Bücher stellt Ash fest, dass darin auch Bilder und Formulierungen enthalten sind, die als rassistisch und antisemitisch gedeutet werden können. Ashs Enttäuschung darüber ist immens.

"Das hat bei mir eine wahnsinnig große Enttäuschung ausgelöst und auch Wut, weil ich nicht verstehen kann, das jemand, der diese Welt aufgebaut hat, so was sagt."
Ash, ehemals Harry-Potter-Ultra

Was einst Sicherheit und Geborgenheit gegeben hat, mag Ash nun nicht mehr lesen: Es fühlt sich falsch an. Ash ist eine ganze Zeit lang unschlüssig, entscheidet dann aber für sich: Eine Autorin, die sich derart äußert, sollte nicht unterstützt werden.

Die Haltung zum Künstler verändert den Blick aufs Werk

Eine neurowissenschaftliche Studie an der Humboldt Universität zeigt, dass Menschen ein Werk anders wahrnehmen, wenn sie zuvor negative Informationen über den Urheber erhalten haben. In dieser Studie wurde das mit Werken von bildenden Künstlern untersucht.

Die Forschenden haben durch die Messung von Gehirnaktivitäten dabei herausgefunden, dass schon die erste Wahrnehmung dann eine andere ist: Die emotionale Erregung ist deutlich höher, wenn Menschen mit den Äußerungen des Schöpfers nicht einverstanden.

Eines der Ergebnisse dieser Studie ist, dass Menschen die Werke von der Person des Künstlers zum Großteil nicht trennen.

"Wir haben festgestellt, dass das Betrachten mit deutlicher mehr emotionaler Erregung einhergeht."
Rasha Abdel Rahman, Neuropsychologin an der Humboldt-Universität zu Berlin

Das muss sich aber nicht zwangsläufig negativ auf den Erfolg einer Autorin, eines Filmemachers oder von Musiker*innen auswirken. Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub hat das Phänomen Cancel Culture erforscht.

Wenn Äußerungen einer Autorin wie J.K.Rowling kritisch diskutiert werden oder das Verhalten eines Comedians wie Louis C.K. in der Öffentlichkeit verurteilt wird, schadet es Künstlern, die bereits so bekannt sind, mitunter gar nicht, sagt Adrian Daub.

In vielen Fällen gelingt es ihnen, ein neues Publikum zu finden, das ihre Arbeit schätzt. Bei unbekannteren Künstler kann der Akt des Cancelns aber möglicherweise schon eher einen Einfluss auf ihren Erfolg haben.

Fansein kann sich im Lauf eines Lebens wandeln

Was ein einschneidendes Ereignis für uns sein kann, ist also für bekanntere Künstler*innen gar nicht so erheblich. Im Bezug auf J.K. Rowlings Harry-Potter-Universum hat Ash ein Jahr mit sich gehadert.

Wie einfach es uns aber fällt, eine Person zu canceln, hängt ganz stark davon ab, wie wir uns als Fan verhalten, hat Psychologe und Fanforscher Martin Huppert ergründet. Er sagt, dass sich unser Fansein im Laufe des Lebens auch wandeln kann. In der Jugend, wenn wir nach Orientierung suchen, kann es einen größeren Einfluss auf uns haben, wenn wir uns von einem Idol, das Vorbildfunktion hat, abwenden.

"In der Psychologie gibt es den Begriff des Halo-Effekts, des Heiligenscheins. Ich erwarte, wenn jemand tolle Lieder schreibt, dass er auch ein toller Mensch ist."
Martin Huppert, Psychologe und Fanforscher