Europas GeschichteDas 20. Jahrhundert war zutiefst anormal

Kann uns der Blick in die Geschichte helfen, die Gegenwart zu verstehen? Ja. Aber nur, wenn man einige Fallstricke vermeidet. Ein Vortrag über geschichtliche Analogien und die Wurzeln Europas des Historikers Sir Christopher Clark.

Kein Staat in Europa ist politisch oder wirtschaftlich unabhängig von den anderen. Das ist heute so und war in der Vergangenheit nicht anders, auch lange vor der Gründung der Europäischen Union.

Denn die Staaten Europas verbindet eine gemeinsame Geschichte. Diese Geschichte genauer zu kennen, kann helfen, die Probleme der Gegenwart besser zu verstehen. Doch historische Vergleiche können auch leicht missbraucht werden.

"Die Politiker angeln vor allem im 20. Jahrhundert, weil dort die großen Emotionen zu holen sind."
Sir Christopher Clark, Historiker

Worauf man achten muss, wenn man in der Geschichte nach Erklärungen für die Gegenwart sucht, erzählt Sir Christopher Clark in seinem Vortrag. Clark ist Historiker und Professor für Neuere Europäische Geschichte an der University of Cambridge in England.

In schwierigen Zeiten, sagt Clark, werden auch Politiker zu "Historikern". Sie nutzten historische Analogien, um ihr Handeln zu rechtfertigen oder ihre Machtansprüche zu stützen.

Historische Analogien sollen das eigene Handeln rechtfertigen

Niemand sei darin erfindungsreicher als Wladimir Putin, so Clark. Zum Beispiel, wenn der russische Präsident von Stepan Bandera spricht, um den Einmarsch in der Ukraine moralisch zu untermauern. Oder wenn Putin Peter den Großen nennt, um Russlands Vorherrschaft geschichtlich zu rechtfertigen.

Putin sei aber nur ein Beispiel von vielen, wie Politiker geschichtliche Analogien nutzen, um Meinungen zu manipulieren oder Entscheidungen als unausweichlich darzustellen.

"Das Problem ist die Manipulation, nicht die Analogien an sich. Wir können nicht gänzlich auf historische Vergleiche verzichten."
Sir Christopher Clark, Historiker

So problematisch die Verwendung historischer Vergleiche auch sein kann, wir haben dennoch nichts anderes als die Geschichte, um die Gegenwart zu verstehen, so Clark.

Wir brauchen dennoch den Blick in die Geschichte

Schließlich könnten wir nicht in die Zukunft blicken. Deswegen müssten wir die Geschichte heranziehen, um Probleme von heute besser zu verstehen. Wir sollten das aber nicht einseitig tun.

"Es spricht vieles dafür, unsere Obsession mit dem 20. Jahrhundert ein bisschen herunterzufahren."
Sir Christopher Clark, Historiker

Insbesondere sollten wir in Europa nicht allein auf das 20. Jahrhundert zurückblicken, betont der Historiker. "Das würde bedeuten anzuerkennen, dass das 20. Jahrhundert in Europa in gewisser Weise ein zutiefst anormales Jahrhundert war, sowohl in seiner ultrabrutalen ersten Hälfte, als auch in der super friedlichen zweiten Hälfte", sagt Clark.

Für unsere komplizierte und chaotische europäische Gegenwart könnte ein Blick in das 19. Jahrhundert hilfreicher sein, argumentiert er. Die Welt Europas im 19. Jahrhundert könnte uns seltsam vertraut vorkommen.

"Wenn wir es einmal schaffen, an dem Alb des 20. Jahrhunderts vorbeizuschauen, werden wir die vergessene Welt des 19. Jahrhunderts wiedererkennen: turbulent, wechselhaft, chaotisch, aber seltsam vertraut."
Sir Christopher Clark, Historiker

Sir Christopher Clark ist Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catherine's College an der University of Cambridge. Seinen Vortrag "Europa als Schicksalsgemeinschaft? Vom politischen Nutzen der Geschichte" hielt er am 8. Oktober 2024 in Leipzig im Rahmen des Symposiums "Schicksalsgemeinschaft – Verlorener Friede in Europa". Organisiert wurde das Symposium von der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig.