Erdbeben im Nahen OstenHelfer: "Das Zeitfenster wird immer kleiner"
Erst lokalisieren sie Verschüttete, dann kommt der Rettungsversuch: Seit mehr als 35 Stunden sind Helfer dabei, Menschen aus den Trümmern zu holen. Paul-Philipp Braun von I.S.A.R. über die Arbeit in der türkischen Stadt Kırıkhan.
Seit mehr als drei Tagen ist das Team der gemeinnützigen Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany im Einsatz, um Menschen in den Erdbebengebieten zu unterstützen. Paul-Philipp Braun ist Mitarbeiter der Organisation.
Die Situation in der türkischen Stadt Kırıkhan sieht er so: "Die Stadt Kırıkhan in der Provinz Hatay ist besonders schwer von den Erdbeben betroffen. Allerdings hat es sehr lange gedauert, bis ausländische Hilfe eintraf. I.S.A.R. Germany ist am Dienstag eingetroffen. Es zeichnet sich ein Bild vieler zerstörter Häuser und notleidender Menschen und Elend ab."
"Wir sahen auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt Kırıkhan zerstörte Straßen, große, offene Erdverwerfungen und viele zerstörte Häuser."
Auf dem Weg vom Flughafen bis zum Einsatzort sind sie erst durch schöne Landschaften gefahren, bis sie im Erdbebengebiet eingetroffen sind. "Je näher die Stadt Kırıkhan kam, desto schlimmer wurden die Bilder", sagt Paul-Philipp Braun.
Trinkzufuhr durch ein gebautes Schlauchsystem
Trotz der Lage vor Ort gelang es seinem Team, drei Menschen aus den Trümmern das Leben zu retten. Darunter war ein 16-Jähriger, der unversehrt, aber eingeschlossen unter den Trümmern lag. "Als der Junge geborgen wurde, begrüßte er seine Freunde voller Freude, dass er lebt." Das war auch für die Helfenden ein sehr emotionaler Moment, sagt Paul-Philipp Braun.
Zuletzt haben sie versucht, eine Anfang-40-jährige Frau zu befreien. Während des Gesprächs mit Paul-Philipp Braun am Mittwochabend haben die Bergungsarbeiten noch angedauert. Da die Frau unter sehr komplexen Strukturen vergraben sei, würden sie schon seit mehr als 35 Stunden versuchen, sie zu bergen.
Das Zeitfenster, in dem Verschüttete noch gefunden und gerettet werden können, werde immer kleiner und kritischer. "Wir haben langjährige Erfahrung und Einsatzkräfte, die auch noch nach über einer Woche Menschen aus Trümmern retten konnten", sagt Paul-Philipp Braun. Zwar sei dies eine absolute Ausnahme, doch die Hoffnung sollte noch nicht aufgeben werden. Solange sie noch Hinweise auf Vermisste erhalten und Lebenszeichen orten können, versuchen sie weiter Leben zu retten.
"Wir erhalten erste Hinweise in aller Regel von Angehörigen. Das sind Menschen, die in Kırıkhan wohnen und wissen, dass jemand unter der Erde ist, der klopft, weint oder ruft."
Speziell ausgebildete Suchhunde unterstützen die Helfenden. Sobald zwei Hunde einen Fund melden, beginnt die Gruppe das Opfer mit technischem Hilfsgerät zu orten. Sie arbeiten mit speziellen Geräten wie Wärmebildkamera, Radar oder Hörgeräten.
Ein apokalyptisches Bild
ARD-Istanbul-Korrespondent Uwe Lueb beschreibt die Situation in der Region Hatay als sehr kritisch: "Ich habe Dramatisches und Bedrückendes in der Region gesehen. Eigentlich scheue ich mich davor, das Wort Apokalypse zu verwenden. Aber in dem Fall muss ich sagen, dass ich in der Region Hatay Apokalyptisches gesehen habe", sagt der Korrespondent.
Im innerstädtischen Bereich existiere das Gebiet um Hatay praktisch nicht mehr. "100 Prozent der Gebäude sind nicht mehr vorhanden. Zu sehen sind nur noch Trümmerberge, die nach vorn, hinten oder zur Seite gebeugt stehen."
"Sofas und Regale ragen aus den Mauerresten heraus. Die Gebäude sind so stark beschädigt, dass sie nicht mehr zu reparieren sind."
Die Menschen vor Ort versuchen die Gegend aus eigener Kraft zu verlassen. "Die Stadt wird komplett neu aufgebaut werden müssen, anders kann man dort nicht mehr leben", schildert Uwe Lueb seine Eindrücke. Menschen, die die Gegend nicht verlassen können, leben in ihrem Auto oder auf der Straße. Viele von ihnen berichten, dass sie die Gegend nicht verlassen können, weil sie kein Benzin haben. Nach wie vor suchen Hilfskräfte nach Überlebenden, sagt der Korrespondent.
"Es sind noch vier Menschen in Vakıflı in der Region Hatay lebend gerettet worden", so Uwe Lueb. Die Freude war groß. Doch ob die Menschen nach so langer Zeit ohne Wasser und bei Frosttemperaturen weiter überleben können, sei ungewiss, sagen Mediziner*innen vor Ort. Die Chancen für sie seien nicht sehr groß, meint der ARD-Korrespondent.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat unterdessen angekündigt, dass die Region um das Erdbebengebiet innerhalb eines Jahres wiederaufgebaut werden soll. Uwe Lueb: "Das kann man mal so im Raum stehen lassen. Ich weiß wirklich nicht, wer das realisieren soll und kann. Da müssen wir in einem Jahr noch mal hinschauen."