Entlassene Akademiker in der Türkei"Wir gehen hier nicht weg"
Lehrer, Richter, Uni-Dozenten - nach dem Putschversuch 2016 haben über 130.000 Menschen in der Türkei ihren Job verloren. Sie haben Probleme neue Stellen zu finden und müssen sich oft eine neue Existenz aufbauen.
Ulaş Bayraktar arbeitete als Dozent für Politik an einer türkischen Hochschule. Während der Entlassungswelle, kurz nach dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016, wurde ihm kurzfristig gekündigt. So erging es Tausenden von Akademikern. Für sie ist es oftmals sehr schwierig, einen neuen Job zu finden. Denn wer per Dekret entlassen wird, erhält zumeist ein Berufsverbot. Das einzige, was dann oft noch bleibt, ist der Weg in die Selbstständigkeit.
"Wir wollten klarstellen: Wir gehen hier nicht weg. Wir werden neue Wege finden, das, was wir früher an der Uni gemacht haben, auch weiterhin zu machen."
Der Politik-Dozent Ulaş entschloss sich dazu, ein Café in seiner Heimatstadt, der südtürkischen Stadt Mersin, zu eröffnen. Es sollte nicht irgendein Café sein, sondern eins, das den kulturellen Austausch fördert.
Ulaş entschied sich für den Namen "Kültürhane", der so viel bedeutet wie "Kulturhaus". Das Café bietet nicht nur Getränke - in der integrierten Bibliothek finden Interessierte auch Bücher von Ulaş Bayraktar und seinen Kollegen. Regelmäßig werden Workshops angeboten. Studierende bekommen hier die Gelegenheit zu lesen, zu lernen und miteinander zu diskutieren. Das Café ist eigenfinanziert: mit Ersparnissen und Spenden bringt Ulaş mit seinen Kollegen das Café über die Runden.
Seine Dozentenstelle verlor Ulaş, weil er im Januar 2016 eine Online-Petition türkischer Akademiker unterzeichnet hatte, die das Ende des Kurdenkonflikts fordert und Kritik an der Politik der türkischen Regierung übt. Die türkische Regierung betrachtet diese Petition als Terrorpropaganda für die in der Türkei verbotene militante Untergrundorganisation PKK, berichtet ARD-Korrespondentin Katharina Willinger aus Istanbul.
Nachdem 2016 der Putschversuch stattfand und der Ausnahmezustand verhängt wurde, wurden tausende Menschen durch Notstandsgesetze per Dekret entlassen. Viele Staatsbedienstete und auch regierungskritische Akademiker wie Ulaş verloren während dieser Zeit ihre Jobs.
"Der Vorwurf, eine Verbindung zu verbotenen Organisationen zu haben, der wird momentan auch sehr vielen Menschen angelastet, die oft sehr glaubwürdig beteuern, dass sie überhaupt nichts mit diesen Organisationen zu haben."
Während ihrer Recherche hat ARD-Korrespondentin Katharina Willinger mit verschiedenen Betroffenen gesprochen. In der Hauptstadt Ankara hat sie das Ehepaar Çınar kennengelernt. Cem und Müslüme Çınar sind ehemalige Grundschullehrer, die per Dekret entlassen wurden und vor Kurzem einen Imbiss eröffnet haben.
"Wir haben unser Auto verkauft, um diesen Laden eröffnen zu können. Wir haben zwei Kinder und müssen irgendwie über die Runden kommen."
Das Ehepaar kennt die Gründe für seine Entlassung nicht. Es gab kein Personalgespräch und auch kein Kündigungsschreiben. Die Dekrete für Entlassungen werden in der Türkei im Amtsanzeiger veröffentlicht. Wer den nicht liest, bekommt selbst gar nicht mit, dass er seinen Job verloren hat. Müslüme und ihr Mann erfuhren von einem Kollegen, dass sie entlassen wurden. Mit ihnen zusammen wurden Tausende von Polizisten und anderer Staatsbeamter aus dem Dienst entlassen.
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