Istanbul während der Gezi-Proteste"Die elektrisierendsten Wochen meines Lebens"
Was als Urlaub geplant war, wurde zum historischen Ereignis. Unser Moderator Markus Dichmann flog 2013 nach Istanbul und erlebte dort die Gezi-Proteste hautnah mit: Wasserwerfer, Barrikaden, Gasmasken und Menschen, die sich vereinen, um Bäume zu beschützen.
Der Taksim-Platz und der direkt angrenzende Gezi-Park muss der von Erdogan angeführten AKP-Regierung von Anfang ein Dorn im Auge gewesen sein. Traditionell demonstrieren die Menschen am Tag der Arbeit auf diesem Platz. Besonders für Gewerkschaften und kemalistisch geprägte Organisationen hat dieser Ort einen hohen ideellen Wert: Symbolisch steht er für die Bürgerrechtsbewegung.
"Taksim war ein Platz, wo die Leute schon immer demonstriert haben: vor allem Gewerkschafter, Kemalisten, Republikaner. Erdogan möchte diesen Ort jetzt umformen. Der Plan ist es, eine Moschee dorthin zu bauen. Und einer aus der Architekteninnung hat mir erzählt, dass Erdogan ein großes Amphietheater bauen möchte, wo er seine Reden halten kann."
Ein Ort mit politischer Symbolik
Direkt neben dem Gezi-Park befindet sich das Atatürk-Kulturzentrum. Mit 1.300 Sitzplätzen bot er die besten Voraussetzungen für die Aufführung des Staatstheaters -ballletts und der Oper, sowie Konferenzen und Filmvorführungen. Vor Jahren wurde das Kulturzentrum geschlossen mit der Begründung, das es renoviert werden müsse. Ein Termin für die Wiedereröffnung gibt es bis heute nicht. Auf der Mitte des Taksim-Platzes steht außerdem das Denkmal der Republik, das an die Gründung der Republik erinnern soll.
Um dem Platz eine neue Prägung zu geben, hatte die AKP-Regierung über die Köpfe der Bevölkerung hinweg beschlossen, die Bäume des Gezi-Parks abzureißen, eine osmanische Janitscharen-Kaserne zu rekonstruieren und darin ein Einkaufszentrum zu eröffnen. Ein Großteil der Istanbuler liebt es, in ihrer Freizeit in Shoppingmalls umherzuschlendern. Das war zumindest die offizielle Erklärung der Regierung, was genau mit dem Platz geschehen solle. Ein Mitglied der Architekturinnung in Istanbul erzählte unserem Moderator Markus Dichmann, dass das Projekt viel größer angelegt sei. Die AKP-Regierung plane den Bau einer Moschee und eines Amphitheaters - der perfekte Ort also, um vor politischer Kulisse Reden zu schwingen.
"Im Gezi-Park entstand ein kleines Dorf, wo die Menschen für einander gekocht haben, Tango getanzt, es gab Musik,es wurde gemalt, Graffitis wurden gesprayt. Die Leute haben in Schichten dieses Dorf bewacht. Vielen Gruppen sind dabei zusammengekommen: Studenten, Fußball-Ultras, LGBT-Gruppe, strenggläubige Muslime, Anwälte, Obdachlose, Kurden und Türken."
Ein Denkmal für die Gezi-Proteste im Jahr 2013
Der Gezi-Park ist eine der wenigen verbliebenen Grünflächen der Millionenstadt. Das große Bauvorhaben und die Absicht, die Bäume des Parks zu fällen, rief zunächst nur die Umweltschützer auf den Plan. Eine Initative zur Rettung des Gezi-Parks stellt sich den Bulldozern entgegen. Daraufhin räumt die Polizei mithilfe von Wasserwerfern und Gaspatronen ein Protestcamp. Nachdem die Bevölkerung miterlebt, mit welcher Härte die Beamten gegen friedliche und unbewaffnete Umweltaktivisten vorgeht, solidarisieren sich Politiker von Oppositionsparteien und auch viele Bürger mit den Demonstranten.
Die Frau im roten Kleid wird zu einer der Ikonen des Gezi-Protests
Die Proteste, die auf dem Taksim-Platz am heftigsten zwischen Protestierenden und der Polizei ausgetragen werden, breiten sich auf andere Stadtteile aus. Durch verschiedene Erlasse der Regierung, die das Küssen in öffentlichen Bahnen verbieten sollen, die Trennung von Frauen und Männern in Uni-Wohnheimen, strengen Alkoholverboten und von der Bevölkerung unerwünschten Bauprojekten, ist die Stimmung im Land ohnehin schon angespannt. Aus den Gezi-Protesten, die als Initiative für den Umweltschutz begonnen hatte, wurde dadurch schnell ein Symbol für zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen politische Willkür und überzogene Polizeigewalt.
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