WendezeitDie Treuhand: Improvisation, Schocktherapie, Ausnahmezustand
1990 bis 1994: Das war die Zeit der Treuhandanstalt. Auch heute, fast 30 Jahre nach ihrer Gründung, fällt es oft schwer, die Arbeit dieser Anstalt sachlich zu beschreiben. Für Ostdeutsche ist das die Einrichtung, die ihre Betriebe ausverkauft und stillgelegt hat - die Verursacherin von Massenarbeitslosigkeit. Ein Zeithistoriker hat diesen umstrittenen Gegenstand erforscht. Ein Vortrag von Marcus Böick.
Es ist nicht so, dass die Arbeit der Treuhand nicht vielfach beschrieben worden wäre. Es gibt zahlreiche journalistische Darstellungen der Einrichtung in Form einer "Skandalgeschichte, als Geschichte des Scheiterns, der Abwicklung, der Unterwerfung des Ostens unter den Westen". Wissenschaftlich aufgearbeitet war die folgenreiche Arbeit der Treuhand bislang noch nicht. "Das war disziplinäres Niemandsland", sagt unser Redner Marcus Böick.
"Man hat keine Konzepte und keine langfristigen Planungen für eine wirtschaftliche Transformation. Ich habe die Treuhandanstalt konzeptionell verstanden als eine Arena des Übergangs."
Dabei gibt es 35 Regal-Kilometer Akten zum Forschungsgegenstand. Aber dieser Forschungsgegenstand verläuft quer zu den Grenzziehungen der Disziplinen. Geht es bei der Treuhand um Geschichte, um Politik, um Ökonomie oder Soziologie? Um Ost-Europawissenschaft oder Genderwissenschaften?
Marcus Böick hat einen ersten umfassenden historischen Überblick erarbeitet, im Rahmen seiner Dissertation. Veröffentlicht wurde 2018 sein Band "Die Treuhand. Idee - Praxis - Erfahrung 1990 - 1994".
"Es kommt zu dieser improvisierten Treuhandgründung: Man richtet eine Treuhandstelle ein, die das Volksvermögen bewahren soll."
Er beschreibt, wie sich die Treuhand von einer Anstalt zur Verwaltung und Demokratisierung des DDR-Volkseigentums in ihr Gegenteil verwandelt hat. Er schaut sich an, wie die Arbeit und die Entscheidungsgewalt in der Anstalt verteilt war, wer dort in welchen Positionen gearbeitet hat. Statt auf Politiker oder Beamte setzte die Bundesregierung auf Experten, auf die wirtschaftlich erfahrene Elite. Viele Männer, wenige Frauen. Manager aus dem Westen in leitender Funktion, Subalterne aus dem Osten.
"Die Bundesregierung setzt sich dann gegenüber der de Maizière-Regierung durch und will diese Stelle umformen in eine zentrale Organisation zur Privatisierung des Volksvermögens. Damit dreht sie den Zweck der Organisation komplett um."
Die Erzählungen der Treuhand-Angestellten aus der damaligen Zeit ähneln sich: Das war abenteuerlich, alles improvisiert, ein einziger Ausnahmezustand. Exemplarisch klar macht Böick dieses (Selbst-)Verständnis mit einem Fernsehbeitrag über den Berliner Treuhand-Leiter Helmuth Coqui - "Hier arbeiten - das ist Pionierarbeit, das ist Verzicht", sagt die Journalistin in diesem Clip.
Marcus Böick lehrt Geschichtswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Seinen Vortrag mit dem Titel "Die Treuhandanstalt und ihr Personal. Über einen zeithistorischen Wiederentdeckungsversuch" hat er am 7. Januar 2019 an der Schule für historische Forschung der Universität Bielefeld gehalten.