Diabetes, Erblindung, NierenversagenAndrea kämpft für ihr Leben
Andrea Liesemer ist 53 Jahre alt und chronisch krank. Sie hat Diabetes Typ 1. Das kann lebensgefährlich werden – vor allem die damit verbundenen Folgeerkrankungen. Diagnostiziert wird die Krankheit als Andrea elf Jahre alt ist. Über die Jahre erblindet sie und muss fast ihr Studium aufgeben. Ihre Nieren versagen, sie hat mehrere Transplantationen. Immer wieder muss sie kämpfen, manchmal um ihr Leben - aber sie gibt nie auf.
Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Außerdem weichen die gesprochenen Worte manchmal vom Skript ab. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.
Andrea: Im Moment bin ich nicht geblendet, weil das Licht hier von hinten kommt und dein Gesicht ist etwas angeleuchtet und irgendwas im oberen Drittel deines Gesichts glänzt einen Taken, deshalb schließe ich, auf eine Brille.
Pia: Du erkennst also einzelne Konturen des Gesichts und einzelne Dinge, die aus den Kontoren herausstechen.
Andrea: Ja, also in deinem Gesicht unmöglich eine Augenbraue zu sehen
Pia: Obwohl wir nur 50 cm voneinander entfernt sitzen.
Andrea ist eine große, schlanke Frau. Ich treffe sie in ihrer Wohnung in München. Die Räume sind hell und schlicht eingerichtet. Es gibt hier nichts, was sich aufdrängt oder Aufmerksamkeit möchte. Als ich komme, frühstückt Andrea gerade. Dazu gehört nicht nur Kaffee und Brötchen, sondern eine große Ladung Tabletten. Ganz normal für sie.
Wir gehen rüber ins Wohnzimmer und setzen uns vor eine lange Bücherwand. Andrea trägt einen Bleistiftrock. Ihre Stiefel sind so hoch, dass sie bis über ihre Knie reichen. Sie hat lange braune Haare, die ihr über die Schulter fallen. Nur ihre Augen, die sind anders als bei anderen Menschen: ein helles blau und etwas trüb.
Im Studium wird Andrea krank – und verliert ihre Sehkraft
Andrea: Das mit den Augen – da war ich schon erstmal geschockt. Das war eine Art Gefühl von Untergehen und dieses Untergehen hat mich dazu veranlasst zu strampeln. Das war eine reflexartige Bewegung gewesen.
Andrea redet da von einem Moment im Jahr 1993, da ist sie 29 Jahre alt. Sie studiert Medizin, hat gerade ihr erstes und zweites Staatsexamen hinter sich. Ihr Ziel: Sie will irgendwann mal Nierenspezialistin werden. Ihre Berufswahl hat mit ihren eigenen Arztbesuche zu tun. Als Diabetikerin muss man ständig hin, Blutzucker überprüfen, Blutdruck checken lassen, Nierenfunktion testen lassen. Das Ganze Herzkreislaufsystem ändert sich durch Insulinmangel.
Die vielen Arztbesuche haben ihr gezeigt, dass sie keine Ärztin sein will, die Akutpatienten behandelt – die sie ein, zwei Mal im Jahr oder Leben sieht und dann nie wieder. Sie möchte Menschen über lange Zeiten begleiten und betreuen. Das macht man zum Beispiel als Nierenspezialistin.
Ja, und auf dem Weg dahin fehlen ihr nur noch die letzten Prüfungen. Sie ist schon in ihrem Praktischen Jahr, das man in drei verschiedenen Stationen macht. Andrea ist gerade in der Inneren Medizin. Aber dann wird sie krank. Sie hat erstmal nur einen ziemlich hartnäckigen Husten und denkt sich nicht viel dabei. Das der nicht so harmlos ist, kommt nur zufällig heraus: Sie hat sich verhoben und dabei einen Nerv im Rücken eingeklemmt.
In der medizinischen Ambulanz der Uniklinik röntgt man sie. Auf dem Röntgenbild: ein dunkler Fleck in ihrer Lunge. Diagnose Lungenentzündung. Andrea bekommt Antibiotika, nur verträgt sie die nicht und erbricht sich. Deshalb weisen ihre Kollegen sie ein. Sie kommt jetzt Antibiotika aus dem Tropf und muss eine Lungenspiegelung über sich ergehen lassen.
"Das mit den Augen – da war ich schon erstmal geschockt. Das war eine Art Gefühl von Untergehen und dieses Untergehen hat mich dazu veranlasst zu strampeln. Das war eine reflexartige Bewegung gewesen."
Und dann, eines Morgens wacht sie auf und merkt, dass sie nur noch sehr verschwommen sieht. Alles ist irgendwie trübe. Sie greift auf ihren Nachttisch, wo ein Medizinbuch liegt, aus dem sie lernen wollte und stellt fest: "Mist, ich kann die Buchstaben nicht mehr erkennen".
Als die Ärzte und Krankenschwestern zur Visite kommen, nimmt sie sie nur als Gestalten in weißen Kitteln wahr. Sie kann die Gesichter ausmachen, aber keine Augen sehen.
Andrea: Die Frau, die mich trainiert hat, mit dem Stock umzugehen, war eine super Ansprechpartnerin. Die konnte ich ganz viel fragen. Gibt es Blinde, die ganz alleine wohnen, war eine wichtige Frage. Und da hat die gesagt: Ja. Und dann habe ich sie gefragt: Kann ich mich blind auch schminken? Da hat sie gesagt: Ja.
Pia: Wie macht man das?
Andrea: Na ja, du machst es halt, in dem du keine Pinsel und Bürstchen oder so benutzt, sondern eben alles mit den Händen – und dann versuchst gleichmäßig, mit gleichmäßigen Druck. Ich mache es eher selten, aber es geht.
Andrea: Die dritte Frage war, wie ich mir eine Zigarette anzünde, das hat sie mir dann auch erklärt. Dann dachte ich: Okay, das Leben geht weiter.
Andere hätten in dieser Situation vielleicht aufgegeben, wären in Zweifel und Depressionen versunken, aber nicht Andrea. Sie besinnt sie sich auf das, was wichtig ist: Unabhängigkeit, Frau sein, das Leben genießen. Und das ändert sich auch nicht, als sie erblindet. Sie will sich nicht selbst aufgeben, will nicht, dass die Diabetes und die Erblindung ihr Dasein bestimmen. Deshalb tut sie, was für sie am naheliegendsten ist: Sie macht weiter wie zuvor. Zumindest, soweit das möglich ist.
"Nach der ersten Übungsstunde mit dieser Frau habe ich gedacht, okay: Jetzt versuchst du es alleine, gehst raus, versuchst den Weg zum Plattenladen deines Freundes zu finden."
Andrea wählt den Weg nach vorne
Andrea: Nach der ersten Übungsstunde mit dieser Frau habe ich gedacht, okay: Jetzt versuchst du es alleine, gehst raus, versuchst den Weg zum Plattenladen deines Freundes zu finden. Und da habe mich auf den Weg gemacht und das "Restsehen" hat schon noch gereicht um zu merken, dass die Menschen vor mir, den Schatten, den ich schon noch erkennen konnte, so erschrocken zur Seite gesprungen sind. Das war mir sehr, sehr unangenehm.
Und ich habe mich irgendwie geschämt, das war mir peinlich und ich bin dann sofort zurück in meine Wohnung und habe mir da aber überlegt: Was machst du jetzt. Weil ich hatte das Gefühl, wenn ich das jetzt so stehen lasse, dann bedeutet mein Leben, ich geh nicht mehr raus, ich sitze in der Ecke und verschimmel. Und dann habe ich so eine Art Vorwärtsstrategie gewählt, die daraus bestand, mir das kürzeste Kleid aus dem Schrank zu suchen, das ich habe, orangene Schuhe anzuziehen, knallrotes Tuch ins Haar, zack, große Ohrringe und Sonnenbrille, so nach dem Motto: Wenn sie schon alle glotzen, dann sollen sie auch was zum Glotzen haben.
Ist mir auch klar, dass das übertrieben war, aber damals hat mir das geholfen, so nach dem Motto: Wenn du das schaffst, in dem Aufzug, wo dich dann garantiert alles anglotzt, bis zu diesem Plattenladen zu kommen, dann hast du es geschafft, dann schaffst du es auch in Zukunft. Und ich bin da angekommen.
Und so macht Andrea auch weiter. Sie beginnt, alles neu zu lernen: Wie sie die Zahnpasta auf die Zahnbürste bekommt, wie sie am einfachsten Kaffee kocht und den Käse im Kühlschrank findet. Sie ist dabei geduldig. Wut führt zu nichts, sagt sie. Stattdessen wird ihr Mantra: "Wie geht es? Irgendwie muss es doch gehen."
"Mein Freund, mein damaliger Freund, hat das sehr schön ausgedrückt. Der hat gesagt: 'Früher haben dir die Kerle hinterher geschaut, jetzt schaut dir alles hinterher, auch die Omi mit Dackel.' Das ist ein ganz anderes Selbstbild."
Nur manches geht eben nicht mehr so wie früher. Andrea ist eine attraktive Frau und ein lebenslustiger Mensch. Ihr Studium hat sie damals nicht gerade straight durchgezogen, dafür waren die Sommer viel zu schön und das Freibad viel zu verlockend, sagt sie. Sie ist für ihr Leben gerne tanzen gegangen, hat geflirtet und Menschen kennengelernt. Das alles fällt jetzt weg. Flirten funktioniert über Blickkontakt und den kann sie nicht mehr herstellen. Ihre Rolle als Frau hat sich verändert.
Andrea: Mein Freund, mein damaliger Freund, hat das sehr schön ausgedrückt. Der hat gesagt: "Früher haben dir die Kerle hinterher geschaut, jetzt schaut dir alles hinterher, auch die Omi mit Dackel." Das ist ein ganz anderes Selbstbild.
Aber Andrea will sich auf gar keinen Fall unterkriegen lassen. Sie verschwendet keine Energie in Dinge, die sie nicht ändern kann, sondern besinnt sich darauf, was ihr am Herzen liegt und handelt danach. Denn man lebt nur einmal und muss niemandem gerecht werden außer sich selbst. Diese Meinung hat sie, seit zehn Jahre vor ihrer Erblindung ein guter Freund verunglückt ist.
Andrea: Es gab diesen sehr, sehr guten Freund von mir, da war ich 18 Jahre, der einen sehr schweren Autounfall hatte mit einem Schädelhirntrauma von dem er sich nie wieder erholt hat. Das war ein sehr lebensbejahender, spontaner, junger Mann und da habe ich gesehen, wie jäh und abrupt so ein junges Leben auch aus der Bahn geworfen wird. Und das war natürlich ein sehr trauriges Ereignis, aber auch eins – was mich betrifft zumindest – auch zu so einer Lebensbejahung geführt hat. Also das man ein Leben eben lebt mit allem drum und dran, gerade eben weil.
Andrea wird Ärztin
Für Andrea zeigt die Geschichte, dass das Leben durch den Zufall bestimmt ist und das es jeden Tag enden kann. Sie erinnert sich im Laufe ihres Lebens immer wieder daran. Die Geschichte gibt ihr Kraft, sich auf das zu konzentrieren, was ihr wichtig ist.
Wirklich wichtig ist ihr damals, als sie erblindet, ihr Studium. Sie war zwar nie besonders ehrgeizig, aber sie trägt den tiefen Wunsch in sich, anderen zu helfen. Sie findet heraus, dass es durchaus blinde Ärzte gibt – es sind zwar nur drei in ganz Deutschland, aber Andrea reicht das. Sie will die vierte werden.
"Im Nachhinein frage ich mich auch, wie ich das gemacht habe. Während ich dabei war, habe ich die Anstrengung, außer diese Leseanstrengung, gar nicht gemerkt."
Andrea: Ich hatte damals Kontakt aufgenommen mit einer bestimmten Stelle für Blinde und Sehbehinderte Menschen, die haben mir ein sogenanntes Bildschirmlesegerät zur Verfügung gestellt, da hast du einen Bildschirm wie für den Computer. Und statt einer Maus hast du eine Handkamera, mit der kannst du über die Buchzeilen scrollen und dann erscheinen Buchstaben, ganz ganz groß auf dem Bildschirm. Das Ding hatte ich dann gerade eine Woche, dann hat sich das sehen nochmal so stark verschlechtert, dass das sehr mühsam wurde, auch mit dem Bildschirmlesegerät zu lesen. Und dann habe ich mir die Sachen dann selbst damals noch auf Kassette gesprochen.
Pia: Wie viele Stunden Kassetten hattest Du?
Andrea: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich dann meist nach zwei, drei Stunden entziffern und aussprechen völlig erschöpft war, Kopfschmerzen hatte und mich dann ins Bett gelegt habe und diese Kassetten immer wieder gehört habe. Oft bin ich dabei vor Erschöpfung auch eingeschlafen. Aber Gott sei Dank ist so viel hängengeblieben, dass ich das Examen bestanden habe.
Pia: Großartig.
Andrea: Na ja...
Pia: Wie na ja? Das ist eine großartige Leistung. Punkt.
Andrea: Im Nachhinein frage ich mich auch, wie ich das gemacht habe. Während ich dabei war, habe ich die Anstrengung, außer diese Leseanstrengung, gar nicht gemerkt.
Andrea ist fast blind und schafft das Examen. Nur Nierenspezialistin kann sie nicht werden. Als Ärztin in der inneren Medizin müsste sie viel mit ihren Augen arbeiten.
Andrea: Eine Nische gibt es, für sehbehinderte und blinde Ärzte – das ist die Psychiatrie. Ganz einfach, weil wir da sehr viel mehr mit den Ohren als mit den Augen machen…
Andreas Nieren drohen zu versagen
Eigentlich könnte es jetzt losgehen, sie müsste sich nur noch einen Job als Assistenzärztin suchen. Aber leider sind die schlechten Augen nicht das einzige Problem, das wenige Monate zuvor während ihre Lungenentzündung aufgetreten ist.
Andrea: Tatsächlich bin ich nur mit dem schlechten Sehen eines Morgens aufgewacht, sondern auch mit dicken Füßen, was bedeutet, dass ich Wasser eingelagert hatte und daran lag, dass die Niere sich so verschlechtert hat. Die hat es nicht mehr geschafft, das Wasser, das ich trinke, auszuscheiden – und auf die Art kommt es dann zu Wassereinlagerungen. Ich war also gleich mit zwei Spätfolgen des Diabetes auf einmal konfrontiert.
Nierenprobleme treten nicht von heute auf morgen auf. Bei Andrea wurde schon Anfang 20 Eiweiß im Urin festgestellt – das gehört da nicht hin und zeigt, dass die Niere ihren Dienst nicht mehr perfekt macht. Bei vielen fängt das so an und geht ähnlich weiter: dicke Füße, Wassereinlagerungen, hoher Blutdruck.
Andrea muss schon seit damals Blutdruckmedikamente nehmen, weil die Niereninsuffizienz zu Bluthochdruck führt. Der wiederum schädigt die Nieren. Es ist ein auswegloser Kreislauf. Würden Andreas Nieren ganz versagen, müsste sie drei bis vier Mal die Woche zur Dialyse, Stunden an Maschinen hängen, ihr Blut manuell reinigen lassen. Davor hat sie schon immer Angst gehabt.
Deshalb hat sie Anfang 20, als die ersten Anzeichen einer Nierenverschlechterung aufkam, angefangen sich zu informieren. Sie hat erste Praktika auf Dialysestationen und in der Transplantationschirurgie gemacht. Aus medizinischem Interesse aber auch weil sie wissen wollte, was eventuell mal auf sie, als Patientin, zukommen könnte. Dabei hat sie Menschen kennengelernt, die bleibende Eindrücke hinterlassen haben.
"Tatsächlich bin ich nur mit dem schlechten Sehen eines Morgens aufgewacht, sondern auch mit dicken Füßen, was bedeutet, dass ich Wasser eingelagert hatte und daran lag, dass die Niere sich so verschlechtert hat."
Andrea: Darunter gab es eine Frau, die hat noch ein Jahr nach der Dialyse es nicht fertig gebracht, ohne Mundschutz sich in die Öffentlichkeit zu begeben aus Angst vor Infektionen, was berechtigt war. Aber zumindest war ein Jahr lang Mundschutz zumindest in meinen Augen doch beträchtlich übertrieben. Es gab auch eine Frau, die hat sich so gefreut über ihre Transplantate, dass sie gleich mal nach Afrika musste und dort über dem Dschungel Fallschirm springen, die hat ihre Organe auch sehr schnell verloren, aufgrund einer Infektion. Und es gab eine Dame, die sehr ausgeglichen war, sehr ruhig, positiv optimistisch gestimmt und die hat mich sehr beeindruckt.
Andrea weiß, wenn ihr Leben lebenswert bleiben soll, braucht sie dringend eine Transplantation und zwar nicht nur eine neue Niere sondern auch eine neue Bauchspeicheldrüse, damit ihr Körper auch wieder mit Insulin versorgt wird.
Sie meldet sich zur Transplantation an und muss ein Jahr warten bis zwei passende Organe gefunden sind. Dann geht alles rasend schnell. Andrea kennt die OP aus ihrem Studium.
Andrea: Und das ist ein tolles Erlebnis, wenn du siehst, wie eine Niere verpflanzt wird. Da wird eine Arterie schon mal angenäht, an die andere des Empfängers und auch der Harnleiter und so weiter und dann wird ganz zum Schluss die Klemme vom Blutzufluss gelöst und dann macht das so puk-puk-puk und mit einem Mal wird die Niere größer, die wird ganz rosig und dann tropft schon der erste Urin aus. Und das ist ein unheimlich schöner Moment.
Nach der Transplantation muss Andrea Medikamente nehmen, damit ihr Körper die fremden Organe nicht abstößt. Doch ihr geht es schnell besser.
Andrea: Das hat dann auch kein Jahr gedauert, bis ich angefangen habe, in einer psychiatrischen Klinik zu arbeiten. Das war dann nochmal eine neue Herausforderung. Ich hatte das Gefühl, ich darf mir keinen Fehler erlauben. Die Fehler sind menschlich, die gehören zum Lernprozess, wenn ich einen Fehler mache, liegt es an den Augen.
Neuer Job, neuer Freund, neues Leben
Andrea macht jetzt genau das, was sie immer machen wollte. Ganz so, als könnte sie noch sehen und hätte nicht Wochen im Krankenhaus verbracht. Es ist ihr größter Erfolg: Wenn das Leben dich mit Zitronen beschenkt, genieße sie mit Tequila, heißt es. Bei Andrea ist es ein doppelter geworden, könnte man sagen: Blind, mit neuer Niere & Bauchspeicheldrüse als Ärztin arbeiten.
Die Patienten mögen Andrea, weil sie sich von ihr nicht beobachtet fühlen. Sie fühlen sich wohl bei ihr, weil sie so gut zuhören kann. Die Kollegen allerdings: naja, eher skeptisch. Wie kann man sich blind durch einen Arbeitsalltag navigieren? Das können sie sich einfach nicht vorstellen. Die Zweifel verletzen Andrea, stacheln sie aber auch an. Sie will – und kann – ihnen beweisen, dass sie eine gleichberechtigte Kollegin ist. Das Pflegepersonal merkt schnell, was sie für eine tolle Frau ist. Besonders einer sticht hervor: Er macht ihr den Hof.
Pia Könntest du festmachen, warum du dich verliebt hast?
Andrea: Er war so frech
Pia: Wie, er war so frech?
Andrea: Na ja, man muss sich vorstellen, ich war die Stationsärztin, er war der neue Zivi und er setzt sich einfach auf meinen Stuhl und hat, ich sag schon mal schüchtern und verhalten, aber mir nach und nach Avancen gemacht. Diese Mischung aus Schüchternheit und Frechheit, die hat mich irgendwie – die hat mich beeindruckt.
Die beiden werden ein Paar. Andrea sagt, sie seien sehr verliebt gewesen. Und weil Liebe blind mache, habe ihr Partner ihre Einschränkungen zwar wahrgenommen, aber nie bewertet.
Ein halbes Jahr nähern sich beiden an: Sie gehen spazieren und essen und sogar ins Kino. Da sitzen sie in der ersten Reihe. Von dort aus kann Andrea noch ein bisschen was auf der Leinwand erkennen.
"Diese Mischung aus Schüchternheit und Frechheit, die hat mich irgendwie – die hat mich beeindruckt. "
Sie werden ein Paar und weil er im Ziviwohnheim wohnt, kommt er meist bei ihr vorbei, Irgendwann bleibt die Zahnbürste, dann bleiben auf die Klamotten. Im Schrank wird Platz gemacht. Als er aus dem Wohnheim raus muss, zieht er zu Andrea, die damals noch in einer WG wohnt. Aber die Mitbewohner ziehen nach und nach aus. Fünf Jahre nachdem sie sich kennen lernen, leben sie zu zweit in ihrer eigenen Wohnung.
Andreas Körper stößt die neuen Organe ab – sie muss wieder kämpfen
Damals ist Andrea Mitte dreißig – ja, es wäre schön jetzt sagen zu können: Und sie lebten zufrieden und glücklich bis an ihr Lebensende. Ist aber leider nicht so, denn Andrea bekommt wieder Probleme mit der Gesundheit. Die sind so schlimm, dass zum ersten Mal wirklich, etwas aufgeben muss.
Bis hierhin hat sie es geschafft, all die Dinge zu machen, die sie wollte, wenn auch mit kleinen Änderungen: studiert, zwar mit mehr Aufwand als andere, aber studiert. Ärztin geworden, wenn auch nicht Nierenspezialistin, einen Partner, auch wenn sie wegen der vielen Medikamente nie Kinder haben wird. Aber eins geht jetzt nicht mehr: Nach sechs Jahren muss sie ihren geliebten Job aufgeben
Andrea: Der Grund war, dass meine Transplantatorgane dann leider chronisch abgestoßen wurden und ich dialysepflichtig wurde. Das war dann der Punkt das Handtuch zu schmeißen, weil 3 bis 4 Mal in der Woche an der Dialyse sein, plus voll berufstätig, plus Blindenalltag bewältigen. Ist ganz klar, das war dann definitiv zu viel.
Es ist das absolute Schlimmste was ihr passieren kann! Das einzige, wovor sie immer Angst hatte – sieben Jahre nach ihrer Transplantation tritt es ein. Die Niere versagt, kann die Giftstoffe nicht mehr aus dem Blut filtern. Andreas Körper vergiftet sozusagen von innen. Ohne Dialyse würde Andrea sterben, Es ist die unerträglichste Zeit ihres Lebens.
Andrea: Die wurde zum Horror, nicht weil man drei oder vier mal in der Woche dahin muss, das habe ich mir jetzt etwas normal konstruiert, indem ich mir gesagt habe: "Du würdest ja jetzt normalerweise auch aufstehen um arbeiten zu gehen und jetzt stehst du halt auf um zur Dialyse zur gehen. Das Schlimme ist, der körperliche Zustand, in dem man ist. Der ist sehr müde, der ist sehr schlapp, dir ist ständig schlecht. Also es ist kein Leben, es ist ein "vor sich hin Dämmern", in der Hoffnung, dass eine nächste Transplantation kommt.
"Ich habe mich nie gefragt: Warum ich? Weil ich diese Frage absurd finde und sie hilft mir auch nicht weiter – warum denn jemand anders? Das ist keine Frage von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, das ist eine Frage von Glück oder Pech."
Andrea muss wieder warten – auf neue Spenderorgane. Und sie weiß auch: Das ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass sie diese Transplantation überhaupt machen kann. Jedes Spenderorgan ist ein Fremdkörper und der eigene Körper bildet Antikörper dagegen. Manchmal mehr, manchmal weniger. Und für jedes neue Spenderorgan muss geschaut werden, ob der Körper nicht schon Antikörper gegen es gebildet hat. Es ist ein langer komplizierter Prozess – Aber Andrea hält durch.
Andrea: Zum einen habe ich mich nie gefragt, warum ich? Weil ich diese Frage absurd finde und sie hilft mir auch nicht weiter, warum denn jemand anders? Das ist keine Frage von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, das ist eine Frage von Glück oder Pech. Und verzweifelt bin ich auch noch nicht, weil ich die Hoffnung auf eine zweite Transplantation hatte, diese Hoffnung hat mich dann aufrecht erhalten. Der Rest den fand ich schon sehr schwierig, weil es den einfach nur auszuhalten gilt. Du kannst ja nicht mal aktiv auf irgendwas hinarbeiten, Du kannst ja nur aushalten und warten.
17 Monate dauert das Warten. 17 Monate, in denen sie jeden zweiten Tag an Maschinen angeschlossen wird, die ihr Blut reinigen. 17 Monate, in denen sie vor sich hindämmert. Sie denkt in dieser Zeit manchmal an ihrem Freund, der den Autounfall hatte, als sie 18 war und danach ein Pflegefall geworden ist.
Andrea: Es gibt mit Sicherheit irgendwann Gründe dann aufzugeben im Sinne von "Es ist gut jetzt aber bis dahin...". Ich meine, jedes Leben will leben.
Nach 17 Monaten Dialyse kommt der erlösende Anruf aus dem Krankenhaus: Es gibt zwei passende Spenderorgane. Wieder geht alles total schnell. Wieder liegt Andrea 12 Stunden im OP. Wieder die Hoffnung: Bald ist alles besser.
Dann wacht sie auf – nur besser geht es ihr nicht.
"Ich hatte viele Infekte, eine innere Blutung, eine Entzündung des Bauchfells und der Transplantatbauchspeicheldrüse. Alles viele, viele, viele Komplikationen – aber als ich einmal mit all dem durch war, war es gut."
Andrea: Ich hatte nach der OP drei Abstoßungsreaktionen, alle drei mussten natürlich behandelt werden. Ich hatte viele Infekte, eine innere Blutung, eine Entzündung des Bauchfells und der Transplantatbauchspeicheldrüse. Alles viele, viele, viele Komplikationen – aber als ich einmal mit all dem durch war, war es gut.
Andrea lebt weiter
Mit elf konnte sie sich nicht vorstellen, mit 50 zu erblinden. Als sie wirklich 50 ist, ist sie nicht nur erblindet, sondern auch schon seit 14 Jahren Rentnerin.
Andrea versucht sich im stressreduzierten Leben liest viel, hat den Zivi, der ihr den Hof gemacht hat, geheiratet. Ihr Kleid war leuchtend rot. Manchmal fährt sie in den Urlaub, irgendwo in Europa, wo ärztliche Versorgung nicht weit ist. Am liebsten an einen Sandstrand, weil sie da ohne Stock endlos spazieren gehen kann.
Aber sie sagt auch: Eine chronische Krankheit ist chronisch lebensbedrohlich. Auch ihre zweite Niere könnte dauerhaft abgestoßen werden oder versagen. Andrea schiebt Gedanken an den Tod deshalb nicht so einfach zur Seite, wie es andere vielleicht tun. Sie beschäftigt sich damit, nicht ständig, aber immer wieder.
Andrea: Also ich habe da so gemacht, dass ich bestimmte Vorstellungen entwickelt habe, die für mich ganz friedvoll, was jetzt nicht heißt, dass ich das jetzt möglichst gerne bald hätte, aber im Moment bin ich so gestimmt, dass wenn es dann mal soweit ist, ist es in Ordnung.
Wesentlich ist, dass ich mir eine komplette Bewusstlosigkeit vorstelle, so wie in Narkose, du kriegst nichts mit. Und wenn du nichts mitkriegst ist da ja auch kein Leid, zwangsläufig und auf materieller Ebene stelle mich mir vor, so ein Körper besteht aus Molekülen und Atomen. Die bleiben ja, die gehen nicht verloren, die werden Teil von was anderen, von Wasser, Grashalm, Baum, von was auch immer. Mit der Vorstellung kann ich ganz gut.
Pia: Das du Teil eines Kreislaufs bist, der einfach weitergeht.
Andrea: Genau, ja.