Aktuelle StudieWarum Hunderttausende gegen Rechtsextremismus demonstrieren
In ganz Deutschland finden Demos gegen die AfD statt. Der Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald hat die Motive der Teilnehmenden untersucht. Dabei wird klar: Die Demonstrierenden haben klare Erwartungen an die Politik.
AfD-Politiker, Neonazis und Unternehmer haben sich im November getroffen, um über die Vertreibung von Menschen aus Deutschland zu sprechen. Seit "Correctiv" Mitte Januar über das Potsdamer Geheimtreffen berichtete, demonstrieren deutschlandweit Hunderttausende gegen Rechtsextremismus.
Psycholog*innen des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold wollten wissen, weshalb sich so viele Menschen an den Protesten beteiligen. Dafür haben sie Teilnehmende interviewt sowie über 1000 Demonstrierende und Sympathisanten online befragt.
"Die Krisen haben eine Zombie-Qualität, die sind nicht totzukriegen. Jetzt sind die Menschen froh, dass sie anpacken können"
Die Teilnehmenden hätten beschrieben, dass sie sich handlungsunfähig fühlen, erklärt Stephan Grünewald, Psychologe und Rheingold-Gründer: "Es wird als fast befreiend erlebt, dass es jetzt eine Möglichkeit gibt, Flagge zu zeigen gegen diese Tabubrüche der Remigrations-Fantasien."
Nach dem "Tabubruch" seien viele Menschen sensibilisiert
Dazu komme die große soziale Gemeinschaft, die Demonstrierende spüren. "Sie haben das Gefühl, dass sie mit Gleichgesinnten zusammenkommen und in der Bewegung etwas bewegen können." Diese Selbstwirksamkeit sei zuletzt wenig spürbar gewesen. Denn angesichts der vielen Krisen der vergangenen Jahre hätten viele Menschen gedacht, nichts ändern zu können.
"Die Krisen haben eine Zombie-Qualität, die sind nicht totzukriegen. Jetzt sind die Menschen froh, dass sie anpacken können", sagt Stephan Grünewald. Ähnlich sei es während der Energiekrise gewesen, als sehr viele Menschen Strom und Energie gespart haben.
Die Forderung der Demonstrierenden: Veränderte Politik
Dabei sind weder Rechtsextremismus noch AfD-Wahlerfolge etwas Neues. Die enthüllten Pläne zur Ausweisung von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland bezeichnet Stephan Grünewald als "Tabubruch". Der habe viele Menschen sensibilisiert, um jetzt als Demokraten wehrhaft zu sein. "Die Grundstimmung vieler Leute im letzten Jahr war, dass sie die Krisen spüren, aber sich in das eigene Schneckenhaus zurückziehen. Jetzt haben sie das Gefühl, dass sie im Schneckenhaus verkommen, wenn sie nicht Flagge zeigen."
Demonstrierende geben Ampel Mitschuld an AfD-Erfolg
Die Befragung habe zudem gezeigt, dass viele Demonstrierende hoffen, durch die großen Proteste die Politik beeinflussen zu können: 61 Prozent gaben an, für Freiheit und Menschenwürde auf die Straße zu geben, aber sich auch eine veränderte Politik zu wünschen. Und 70 Prozent geben der Ampelkoalition durch ihren Regierungsstil eine Mitschuld am Aufkommen der AfD. "Die Enttäuschung wird groß sein, wenn in der Politik alles beim Alten bleibt. Dann kann die kollektive Bewegtheit auch zum Bumerang für die Ampel werden", sagt der Psychologe.
Das laut Stephan Grünewald Wichtige an der aktuellen Protestbewegung: Sie werde nicht von extremen Gruppierungen okkupiert. "Im Moment finden die Menschen der Mitte da eine politische Heimat." Einzelne fühlten sich jedoch von Pro-Palästina- oder Anti-Polizei-Aussagen gestört. "Bei solchen Forderungen haben sie eher das Gefühl, nicht dazuzugehören."