PolitikwissenschaftWarum wir Experten (nicht) vertrauen
Demokratische Entscheidungen werden häufig mithilfe von Expertinnen und Experten getroffen. Besonders deutlich wurde das in der Finanzkrise und der Corona-Krise, sagt der Politikwissenschaftler Michael Zürn. In seinem Vortrag erklärt er, warum es dadurch leichter für Populisten wird, die Wissenschaft anzugreifen.
Denkt mal an die Finanzkrise zurück: Erinnert ihr euch noch an Mario Draghi, der als Chef der Europäischen Zentralbank die Finanzwelt beruhigte? In der Corona-Krise war es dann ganz präsent Christian Drosten, der zusammen mit anderen Wissenschaftler*innen die Bundesregierung beraten hat.
Verwissenschaftlichung der Politik
Diese Krisen waren weniger die Stunde der Exekutive, sondern die Stunde der Expertise, sagt Michael Zürn, Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin. In seinem Vortrag erklärt er, wie Expertinnen und Experten politische Entscheidungen prägen und spricht von einer "Verwissenschaftlichung" der Politik.
Unbequeme Entscheidungen werden an Expert*innen ausgelagert, sagt der Politikwissenschaftler. Das führe dazu, dass der wahrgenommene Einfluss von Mehrheitsentscheidungen zurückgehe – Draghi, Drosten und Co. wurden schließlich nicht von uns gewählt.
"Die Verwissenschaftlichung der Politik führt im Ergebnis zur Politisierung der Wissenschaft."
Dabei sei Expertise für liberale Demokratien unerlässlich. Es gibt neben den sogenannten majoritären Institutionen wie Parlament und Parteien auch nicht-majoritäre Institutionen, die aus Expertinnen und Experten bestehen – Beispiele dafür sind etwa die Zentralbanken und Verfassungsgerichte.
Sie sind dazu da, die Macht der Mehrheitsinstitutionen einzugrenzen, sagt Michael Zürn. Auch für die öffentliche Debatte in liberalen Demokratien sei Expertise unerlässlich. Zum Beispiel wenn wir uns auf die Klimamodelle der Wissenschaft verlassen, ohne dass jede*r von uns sie nachrechnen muss.
"Die liberale Demokratie hängt grundlegend von der Anerkennung von Expertise ab, von der Anerkennung von Wissenschaft, von der Anerkennung eines bestimmten Wahrheitsregimes, welches die Möglichkeit einer Wahrheit beinhaltet."
Es besteht jedoch die Gefahr, dass Expert*innenentscheidungen die Demokratie entpolitisieren, sagt der Politikwissenschaftler. Wenn Politikerinnen und Politiker unbequeme Entscheidungen mit der Wissenschaft rechtfertigen, werde die Wissenschaft dafür verantwortlich gemacht, nicht die Politik.
Autoritäre Populisten greifen Wissenschaft und Expertise an
So verlieren Fachleute und die Wissenschaft das Vertrauen, das sie benötigen, um effektiv sein zu können, warnt Michael Zürn. Außerdem sei es einfacher für rechtsautoritäre Populisten, die Wissenschaft und unser demokratisches Wahrheitsverständnis anzugreifen.
"Wissenschaft spielt eine größere Rolle in der Politik, dadurch geht der wahrgenommene Einfluss von Mehrheitsentscheidungen zurück. Das ist ein Einfallstor für autoritäre populistische Angriffe auf das liberale Wahrheitsregime."
Michael Zürn ist Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin. Seinen Vortrag "Den Fachleuten vertrauen? Expertise in einer sich wandelnden Gesellschaft" hat er am 2. September 2023 im Rahmen der Sommeruni der Berliner Akademie gehalten.