CoronavirusÄthiopien: Viel mehr Infektionen als bisher angenommen
In Teilen Afrikas könnten sich so viele Menschen bereits mit dem Coronavirus angesteckt haben, wie in Europa geimpft wurden – viel mehr also als die offiziellen Zahlen zeigen. Das ist das Ergebnis einer Antikörper-Studie, die in Äthiopien durchgeführt wurde. Die Forschenden fordern nun: Die Impfstrategie vieler afrikanischer Länder muss sich ändern.
Offiziell entfallen nicht einmal drei Prozent aller weltweit erfassten Corona-Fälle und nicht einmal vier Prozent der Todesfälle auf ganz Afrika. Dass das nicht der Realität entsprechen kann, bestätigt nun eine Studie, bei der in Äthiopien 2.300 Menschen zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf das Virus getestet wurden.
"Unsere Zahlen unterscheiden sich dramatisch von denjenigen, die es offiziell gibt. In Äthiopien sind nur ein paar Fälle gemeldet worden, wir aber konnten zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung schon infiziert wurde."
Andres Wieser ist Oberarzt in der Abteilung für Tropenmedizin am Universitätsklinikum München und war an der Studie beteiligt. Für diese Studie haben sie in Äthiopien sowohl Menschen in Städten als auch in ländlichen Regionen getestet. Ihr Ergebnis: Es müssen viel mehr Menschen infiziert gewesen sein als die Statistik sagt.
Wenig Tests, Gesundheitseinrichtungen und Meldestrukturen
Es gibt mehrere Gründe, warum nur so wenig Corona-Fälle offiziell erfasst werden konnten. Zum einen waren in sehr armen afrikanischen Ländern wie Äthiopien nur wenig Covid-Tests verfügbar, erklärt Andreas Wieser. Hinzu komme auch, dass es nur sehr wenige Einrichtungen zur Krankenversorgung und dezentrale Gesundheitsstationen gibt. Darum seien auch sehr viel weniger Tests pro Person im Land durchgeführt worden.
Ein weiteres Problem ist, dass es kein koordiniertes Meldewesen gibt: Die Strukturen zur Erfassung aller Fälle gibt es schlichtweg nicht. Erschwerend kommt in Äthiopien noch hinzu, dass es im Norden des Landes Unruhen gibt und dadurch die Meldung und auch die Krankenversorgung verschlechtert wird.
Mehr Infektionen, aber wohl mildere Verläufe
Während also viele westliche Länder noch über Impfstofflieferungen diskutierten, wurden viele Länder Afrikas bereits mit dem Virus durchseucht. Vor allem unter dem medizinischem Personal verbreitete sich das Virus rasant. Im Untersuchungszeitraum von einem halben Jahr stieg der Anteil von Personen mit Antikörpern auf rund 54%. Laut offiziellen Zahlen dürften nur rund 0,3 Prozent Antikörper haben.
"Es ist schwer etwas über die Krankheitsverläufe herauszufinden. Denn wir wissen von vielen Erkrankungen nicht. Das heißt, auch wenn sie daran gestorben sind, ist die Diagnose nicht bekannt."
Dennoch lässt sich aber anhand der Beobachtungen feststellen, dass viele der Verläufe wohl größtenteils recht harmlos waren, so der Mediziner. Der Grund dafür ist relativ klar: Die Hälfte der Bevölkerung Äthiopiens ist unter 15 Jahre alt. Nur drei Prozent sind über 60 Jahre alt.
Zum Vergleich: In Deutschland ist fast ein Drittel der Bevölkerung über 60. Das Alter ist aber eines der Hauptrisikofaktoren für eine schwere Corona-Erkrankung. Deshalb sei das Risiko für einen schweren Verlauf der Erkrankung in Äthiopien relativ gering.
Wenig Bluthochdruck und Übergewicht
Neben einem hohen Alter, sind es vor allem Bluthochdruck und Übergewicht, die einen schweren Verlauf begünstigen können. Diese Faktoren kommen in Äthiopien aber nur selten vor. Auch das senkt dort die Rate an schweren Verläufen.
"Die Ergebnisse lassen sich wohl auf mehrere afrikanische Länder übertragen, denn viele Länder in Afrika haben eine ähnliche Demographie und ein ähnliches Stadt-Land-Gefälle."
Die Studie beschränkt sich auf Äthiopien, doch die Ergebnisse lassen sich wohl auch noch auf andere afrikanische Länder übertragen. Allerdings gibt es Unterschiede: Natürlich Einige Länder haben ein dichteres Versorgungsnetz als Äthiopien, das eher am unteren Ende dieser Skala steht. Trotzdem glaubt der Mediziner, dass wohl in vielen Ländern Afrikas bereits eine solche Durchseuchung mit dem Coronavirus stattgefunden hat.
Risikopopulation schützen
Anhand dieser ersten Erkenntnisse fordern die Forschenden eine Änderung der Impfstrategie in den afrikanischen Ländern. Denn auch wenn noch mehr Daten erhoben werden müssen, lassen sich an den Eckdaten der Studien bereits einige Schlüsse ziehen, so der Mediziner.
Oberstes Ziel sollte demnach sein, die Risikogruppen zu schützen. Es sei nicht sinnvoll, die wenigen vorhandenen Impfstoffdosen an Personen zu geben, die ein geringes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Da nur drei Prozent der Bevölkerung Äthiopiens über 60 sei, ließe sich auch mit wenig Impfstoffdosen eine große Wirkung erzielen.
"Da wir diese hohen Durchseuchungsraten schon haben, verschwenden wir Impfstoff, wenn wir auf bestehende Infektionen draufimpfen."
Außerdem sei angesichts der hohen Durchseuchungsraten das Risiko hoch, Impfstoff an Menschen zu verimpfen, die davon gar nicht profitieren, weil sie bereits eine Infektion hinter sich haben und noch Antikörper besitzen. Der wenige Impfstoff sollte also vor allem an Personen gehen, die noch nicht infiziert wurden, schlägt Andreas Wieser vor.
Das funktioniert aber nur, wenn genügend Daten vorhanden sind. Deswegen sei diese Studie auch so wichtig, so der Mediziner.