Spurensuche im VatikanPius XII.: Warum schwieg der Papst zur Shoah?
Warum schwieg der Papst zur Shoah? Warum äußerte sich Pius XII. nie explizit zur Judenverfolgung, obwohl er davon wusste? Ein Vortrag des Kirchenhistorikers Hubert Wolf.
Am 27. September 1942 legte der US-amerikanische Sondergesandte Myron Taylor dem Papst ein Schreiben vor. Darin fragte Präsident Franklin D. Roosevelt, ob der Vatikan Informationen über eine massenhafte Ermordung von Juden im Jahr 1942 bestätigen könne oder nicht.
"Für die Amerikaner wäre es sehr wichtig gewesen zu erfahren, dass der Vatikan tatsächlich über Informationen verfügte, die ihre eigenen bestätigten."
Wenige Wochen zuvor, am 30. August 1942 hatte die "Jewish Agency for Palestine" der amerikanischen Regierung ein Memorandum geschickt, in dem sie über die Liquidierung des Warschauer Ghettos berichtete – davon, dass Juden in Lager gebracht wurden, dass alleine in Lemberg im "vergangenen Monat" 50.000 Juden ermordet worden waren und in Warschau 100.000.
Die US-amerikanische Regierung sei skeptisch gewesen, ob dieser Bericht der Jewish Agency for Palestine wirklich stimmen konnte, sagt der Kirchenhistoriker Hubert Wolf. Die beschriebenen Gräuel und die hohe Zahl der Morde seien den Amerikanern unglaubhaft erschienen.
"Die beschriebenen Gräuel und vor allem die Zahl hunderttausender ermordeter Juden in einer derartig kurzen Zeit schienen der amerikanischen Regierung unglaubhaft."
Deshalb versuchten sie, die Angaben vom Vatikan bestätigen zu lassen. Die Anfrage ging sogar weiter, berichtet Wolf. Wenn das stimme, so wollten die Amerikaner wissen, ob der Papst Ideen habe, "wie man die öffentliche Meinung dazu benutzen könne, um die zivilisierten Kräfte dieser Welt aufzurütteln, um diese barbarischen Taten zu verhindern".
Vatikan bestätigte Informationen über die Shoah nicht - trotz besseren Wissens
Der Vatikan bestätigte den Amerikanern den Bericht der Jewish Agency nicht, obwohl er unabhängige Informationen über die massenhafte Ermordung von Juden hatte. Warum? Wie kam es zu dieser Entscheidung des Papstes? Um diese Frage zu beantworten, hat sich Hubert Wolf auf eine wie er selbst sagt "historisch kriminalistische" Spurensuche in die Archive des Vatikans begeben.
"Jetzt ist es erstmals möglich, hinter die hohen Mauern des Vatikans zu schauen, um die internen Diskussionen und mitunter recht verworrenen Prozesse der Entscheidungsfindung in der römischen Kurie zum Thema Holocaust nachzuzeichnen."
Anhand bisher unbekannter Dokumente, Anfragen und Memos rekonstruiert Hubert Wolf in seinem Vortrag, wie die Entscheidungsprozesse im Vatikan im Jahr 1942 abliefen und welche Rolle Berater und der Papst selbst dabei spielten. Gleichzeitig geht er der Frage nach, wie der Vatikan die wissenschaftliche historische Bewertung des Pontifikats von Papst Pius XII. beeinflusst hat, indem er bestimmte Dokumente zugänglich gemacht hat, andere aber nicht.
Hubert Wolf ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Im Jahr 1985 wurde er zum Priester geweiht. Er ist Inhaber der 23. Johannes-Gutenberg-Stiftungsprofessur der Universität Mainz.
Im Rahmen dieser Stiftungsprofessur hält er die Vorlesungsreihe "Die geheimen Archive der Päpste – und was sie über die Kirche verraten". Aus dieser Reihe stammt sein Vortrag "Der Papst, der geschwiegen hat? Pius XII. und der Holocaust". Er hat ihn am 25. April 2023 in Mainz gehalten. Einen weiteren Vortrag dieser Reihe hatten wir in unserer vorherigen Hörsaal-Folge.