ArtenvielfaltDie Natur verschwindet aus unserer Sprache
Wenn wir über eine Blume, ein Tier oder einen Baum sprechen, wissen wir heute oft nicht wie. Denn: Unser Vokabular über die Natur wird dünner und unpräziser.
In den vergangenen Jahrhunderten hat sich unsere Sprache dahingehend gewandelt, dass bestimmte Worte aus unserem Sprachgebrauch verschwunden sind: Möchten wir zum Beispiel die Natur in ihrem Artenreichtum beschreiben, fehlen uns dafür heute oft die Worte. Statt der genauen Bezeichnung greifen wir dann auf Oberbegriffe zurück.
Augen... was?
Während Leserinnen und Leser im 19. Jahrhundert in Romanen und anderen belletristischen Texten beispielsweise von Augentrost und Männertreu in einer Gartenszene gelesen haben, erfahren sie ein Jahrhundert später nur noch ganz allgemein etwas über Blumen, die vor dem Haus wachsen.
Die Literatur zeigt, dass wir immer weniger Worte kennen und benutzen, um die Natur zu beschreiben. Zu dem Ergebnis kommen Forschende der Universität Leipzig und der Goethe-Universität Frankfurt am Main in einer Studie.
Dafür haben sie fiktive und schöngeistige Literatur aus den Jahren 1700 bis 1970 untersucht. Alle der 16.000 Texte sind Teil der Online-Bibliothek Projekt Gutenberg und in englischer Sprache erschienen. Ihnen haben sie eine Liste mit etwa 240.000 biologischen Artenbezeichnungen gegenübergestellt.
Wissen über die Natur nimmt ab
Heraus kam: Im Verlauf der Jahrhunderte hat nicht nur die Zahl der Worte abgenommen. Die Begriffe aus der Natur wurden auch weniger präzise. Grund dafür könnte die Industrialisierung sein, vermuten die Forschenden.
Ihre Analyse zeigt: Ab ungefähr 1700 hat die Wörtervielfalt zugenommen und etwa 1830 ihren Höhepunkt erreicht. Angefeuert wurde dieser Aufschwung damals durch die Aufklärung, die frühe Industrialisierung und den Kolonialismus.
Besonders Letzteres sorgt für eine Vielzahl an neuen Wörtern und Naturbeschreibungen in der Literatur, was die Menschen interessiert verfolgen. Die Aufklärung und die Industrialisierung sorgen wiederum für einen Bildungsschub und ein Interesse an wissenschaftlichen und auch naturwissenschaftlichen Themen.
"In der schönen Literatur gibt es heute weniger Begriffe aus der Natur. Wenn Autoren über Natur schreiben, dann schreiben sie weniger artenreich als früher."
Ab 1830 nimmt das Vokabular über die Natur allerdings wieder ab. Das liegt vermutlich daran, dass mehr Menschen in Städten wohnen und sich stärker von der Pflanzen- und Tierwelt wegbewegen, schreiben die Studienautoren. Zusätzlich lösen neue Erfindungen alte Traditionen ab: Nach der Erfindung des Autos zum Beispiel geht es in den Erzählungen kaum noch um eine Kutschfahrt mit Pferden. Ähnlich verschwinden auch andere Naturbeschreibungen aus der Literatur.
Für die Forschenden gibt diese Entwicklung Hinweise darauf, welche Rolle die Natur in unserer Kultur spielt und wie wir diese Rolle immer weiter zurückdrängen. Können wir den Artenreichtum nicht mehr beschreiben und unterscheiden, könnte das dazu führen, dass uns auch nicht auffällt, wenn bestimmte Arten aussterben.