Dekoloniale Literatur in DeutschlandAnna Seghers - eine jüdisch-schwarze Verflechtungsgeschichte
Als Jüdin und Kommunistin muss die Schriftstellerin Anna Seghers vor den Nationalsozialisten fliehen. Die Texte, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil schreibt, sind die erste dekoloniale Literatur in Deutschland, sagt die Literaturwissenschaftlerin Maud Meyzaud.
Anna Seghers Werke wurden von den Nationalsozialisten verboten, ihre Bücher verbrannt. Mit ihrer Familie flieht sie zunächst in die Schweiz, später nach Frankreich. Im März 1941 gelingt es ihr schließlich, von Marseille aus über den Atlantik nach Mexiko zu reisen.
"Während ihrer Überfahrt – mit der Angst im Nacken, als Kommunistin und Jüdin doppelt verfolgt – bekommt Seghers eine andere globale Gewaltgeschichte in den Blick."
Bereits auf der Überfahrt beschäftigt sie sich mit der Geschichte des Sklavenhandels und der Kolonialisierung in der Karibik.
Transatlantischer Sklavenhandel als Ursprung der Rassenideologie
Wie sie dazu kam und wie dieses Thema ihre Werke prägte, erzählt die Literaturwissenschaftlerin Maud Meyzaud in ihrem Vortrag.
"In der karibischen Plantokratie erblickt Seghers – nach Marx – einen zentralen Schauplatz der Genese der kapitalistischen Zivilisation und im transatlantischen Sklavenhandel die Geburtsstätte der Rassenideologie."
Eine zentrale Rolle spielt dabei ein Erlebnis auf der Überfahrt nach Mexiko: Anna Seghers bemerkt, dass zwei spanische Frauen sich problemlos mit den schwarzen Matrosen unterhalten können, die auf dem Schiff arbeiten. Denn auch sie sprechen Spanisch. In diesem Moment, so beschreibt Seghers es, wird ihr die gewaltige Dimension der spanischen Kolonialgeschichte plötzlich bewusst.
"Seghers karibische Erzählungen [...] gehören in eine intellektuelle Geschichte der Nachkriegszeit, die koloniale und nationalsozialistische Verbrechen nicht getrennt voneinander denkt."
Anna Seghers denke koloniale und nationalsozialistische Verbrechen nicht getrennt voneinander, sagt Maud Meyzaud. Das zeige sich in den Texten, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil in den späten 1940er und in den 1950er-Jahren schreibt. Anna Seghers Texte, so die These von Maud Meyzaud, sind die erste dekoloniale Literatur in Deutschland.
"Ich schlage vor, Anna Seghers literarische Produktion unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus dem mexikanischen Exil als eine jüdisch-schwarze Verflechtungsgeschichte aufzufassen."
Der Vortrag
Maud Meyzaud ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung. Ihr Vortrag hat den Titel "Anna Seghers und die Haitianische Revolution. Transatlantische Verflechtungen von jüdischer Erfahrung, Sozialismus und Négritude". Sie hat ihn am 8. Juli 2021 digital gehalten, im Rahmen des Forschungsnetzwerks Queer Studies, Decolonial Feminism and Cultural Transformation an der Justus-Liebig-Universität Gießen.