KrisenkanzlerinAngela Merkel - Zögern, Zaudern und dann springen
Das größte politische Talent Ostdeutschlands wird 2005 Bundeskanzlerin. Welche Ziele verfolgt Kanzlerin Merkel, welche Maximen leiten ihr politisches Handeln? Ihre Biographin sagt: Angela Merkel handelt, wenn sie muss. Krisen sind der Motor ihrer Politik. Ein Vortrag der Publizistin Ursula Weidenfeld.
Angela Merkel erzählt nicht viel aus ihrem Leben. Aber was sie erzählt, erzählt sie mit Bedacht: Kartoffelsuppe. Pflaumenkuchen. Eine Geschichte geht so: Als Schülerin steht sie eine komplette Schulstunde lang auf dem Dreimeterbrett, sie kann sich nicht zum Absprung überwinden. Als es schon zur nächsten Stunde läutet, springt sie doch. Erst: Zögern und Zaudern. Im letzten Moment: Handlung. "Sie hat den Mut der letzten Sekunde", sagt die Biographin Ursula Weidenfeld.
"Von ihrem Förderer Helmut Kohl hat Angela Merkel gelernt, nur die Probleme zu lösen, die sie lösen muss."
Die Autorin findet, Angela Merkel habe Understatement zur Strategie gemacht. Pragmatisch habe sie sich für die CDU als ihre Partei entschieden. Ebenso pragmatisch entscheide sie Sachverhalte, wenn entschieden werden muss. Finanz- und Wirtschaftskrise. Flüchtlinge. Corona. Bei Themen wie der Ehe für alle oder der Abschaffung der Wehrpflicht habe die Kanzlerin ebenfalls rein pragmatisch regiert, mit dem Mainstream.
"Die große Enttäuschung der Konservativen in der CDU über die Regierungszeit Merkels ist total nachvollziehbar."
Mit dem Kölner Psychologen Stephan Grünewald beschreibt sie das Deutschland vor der Zuwanderung des Jahres 2015 als Auenland. Im Auenland wohnen gemütliche, verfressene Wesen, die die Beschaulichkeit lieben. Die nicht mit Problemen belästigt werden wollen. Angela Merkel habe diesem Veränderungsunwillen Rechnung getragen.
Kluft zwischen Wissen und Handeln
Die Biographin diagnostiziert eine Kluft zwischen dem, was die Wissenschaftlerin Merkel über problemträchtige Themen wie Klima, Rente, Digitalisierung und Bildung wisse und dem, was sie Kanzlerin auf diesen Gebieten veranlasst habe.
"Die Dinge vom Ende her zu denken, in Krisen überlegt und zielorientiert zu handeln, ist eine der großen Stärken der Kanzlerin gewesen. Die Dinge nicht zu Ende zu bringen, ist ihre eklatante Schwäche."
Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin und Publizistin. Im August 2021 erschien ihr Buch "Die Kanzlerin. Porträt einer Epoche". Ihren Vortrag über die Krisenkanzlerin Merkel hat sie für den Hörsaal konzipiert und am 09.07.2021 für uns eingesprochen.
Zum Weiterhören: Am 12. September 2021 sprach die Historikerin Christian Morina im Hörsaal unter anderem darüber, wo und wie Angela Merkels ostdeutsche Herkunft zum Vorbild, Idealbild und zum Feinbild wurde.