Amnesty InternationalDie Grundrechte in Europa sind in Gefahr
Diskriminierung, Repression und Zensur: Einige Regierungen in Europa nutzen die Pandemie, um Grundrechte massiv einzuschränken. Amnesty International kritisiert vor allem Ungarn und Polen. Deutschland schneidet deutlich besser ab.
In Ungarn nutzt Ministerpräsident Viktor Orbán die Corona-Pandemie als Vorwand, um sich unbegrenzte Macht zu verschaffen. Durch ein neues Dekret könnte er auf unbestimmte Zeit im Amt bleiben. In Polen debattiert das Parlament darüber, das Recht auf Abtreibung weiter einzuschränken und Sexualkundeunterricht an Schulen zu verbieten. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit geraten unter Druck – und das mitten in Europa.
Vor allem aber unterstellt die Regierungspartei PiS in einem jahrelangen Prozess die Justiz des Lande ihrer politischen Kontrolle und verletzt damit Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Gegen Polen laufen deswegen seit 2018 Vertragsverletzungs- verfahren, angestrengt von der Europäischen Union.
"In Ungarn und Polen haben wir wiederholte Versuche gesehen, die Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Gerichte auszuhöhlen. LGBTI und Flüchtlinge werden dort diskriminiert, stigmatisiert und öffentlich angegriffen."
Amnesty International äußerte sich besorgt, dass es der Europäischen Union bislang nicht effektiv gelungen ist, gegen die Angriffe auf die Demokratie vorzugehen, schreibt der Deutschland-Chef von Amnesty, Markus Beeko in einer Pressemitteilung. Die Corona-Pandemie könnte den Trend verschärfen, erklärte Amnesty International bei der Veröffentlichung ihres Jahresberichts für Europa und Zentralasien.
"Es ist ein Prüfstein für die Europäische Union, wie sie den zunehmenden Angriffen einzelner Regierungen auf die Rechtsstaatlichkeit wirksam entgegentritt. Die aktuelle Instrumentalisierung der Pandemie offenbart, wie wenig ihr das bislang gelungen ist."
Angriff auf Menschenrechte und Rechtsstaat
Regierungen versuchen die Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen und rechtsstaatliche Prinzipien auszuhebeln, kritisiert die Organisation. In der Migrations- und Flüchtlingspolitik sei der Schutz von Menschenleben weiter der Abschottung von Grenzen untergeordnet worden. Außerdem seien grundlegende Rechte, wie Meinungsfreiheit und das Recht auf friedlichen Protest, in vielen Staaten bereits beschnitten. Die Corona-Pandemie könne jetzt entsprechende Tendenzen beschleunigen, sagt Markus Beeko.
Maßnahmen notwendig
Viele Maßnahmen seien zum Schutz der öffentlichen Gesundheit durchaus notwendig, so der Deutschland-Chef von Amnesty International weiter. Viele Regierungen nutzen die Krise aus, um Notstandsgesetze zu verabschieden, die teils eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Gerade jetzt müsse dem Schutz der Menschenrechte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.
"Übermäßig gefährdete Menschen wie Obdachlose oder Asylsuchende müssen geschützt, grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien geachtet werden."
Deutschland wäge gut ab
Der Bundesregierung attestierte Amnesty bisher eine gute Abwägung zwischen der Pandemie-Bekämpfung und der Einschränkung von Grundrechten. Eine solche Krise kann Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten erfordern, sagt Markus Beeko. Diese müssten allerdings unabhängig kontrolliert werden und dürften nur für einen begrenzten Zeitraum gelten. Falls das der Fall ist, könne auch ein demokratischer Rechtsstaat mit diesen Einschränkungen umgehen.
"Wichtig in einem Rechtsstaat ist , dass Einschränkungen verhältnismäßig, zeitlich begrenzt und unabhängig kontrollierbar vorgenommen werden. Und wichtig ist, dass die Zivilgesellschaft und die Medien darauf achten."
Verantwortung der EU
In Europa müsste jetzt ganz genau hingeschaut werden, so Markus Beeko. Wer ein Teil der Staatengemeinschaft sein will, müsse auch die Regeln einhalten. Die EU stehe jetzt zum einen in der Verantwortung, diejenigen zu unterstützen, die durch Einschränkungen direkt bedrängt werden. Zum anderen stehe jetzt jeder einzelne Mitgliedsstaat in der Pflicht, Menschenrechtsverstöße und die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit bei jeder Möglichkeit zu thematisieren. Da sei noch viel Luft nach oben, kritisiert der Deutschland-Chef von Amnesty International.
"Wenn Staaten in der EU sein wollen, dann müssen sie deren Regeln einhalten. Wenn sie das nicht tun, ist es viel deutlicher notwendig, dass alle anderen Staaten in auf die Einhaltung der Menschenrechte drängen."