Afrodeutsche Aktivistin May Ayim"Schwarz und deutsch gilt immer noch als exotisch"
May Ayim gilt als eine wichtige Vorreiterin und Vertreterin der
afrodeutschen Bewegung. Ihre Vorträge, Artikel und Gedichte über
Rassismus und afrodeutsche Geschichte sind auch 25 Jahre nach ihrem Tod noch immer erschreckend aktuell. Zwei ihrer Texte hat die Autorin Alice Hasters anlässlich des Todestages von May Ayim für den Hörsaal vorgetragen.
"Rassismus in der Bundesrepublik" sollte das Thema ihrer Diplomarbeit lauten. Bei ihrem Professor führte das zu Erstaunen und Befremden, berichtet May Ayim später. Rassismus gebe es in Deutschland doch gar nicht, habe er ihr eindringlich erklärt – 1984 war das. Heute würde so etwas an einer deutschen Uni so wohl kaum noch passieren. Allerdings nicht, weil dieses Denken gänzlich verschwunden wäre.
"Als ich die Texte von May Ayim gelesen habe, war ich total erschrocken darüber, wie aktuell sie bis heute sind."
Vieles von dem, was May Ayim in den 1980er und 1990er Jahren in Vorträgen, Artikeln und Gedichten beschreibt und kritisiert, ist noch immer aktuell. Etwa, dass es für viele Menschen einen Widerspruch darstellt, zugleich schwarz und deutsch zu sein.
"Schwarz und deutsch gilt immer noch als exotisches Phänomen, obwohl die Geschichte von Schwarzen in Deutschland bis in die Zeit des Mittelalters zurückreicht."
In diesem vermeintlichen Widerspruch wächst May Ayim auf. 1960 wird sie in Hamburg als Tochter einer weißen Deutschen und eines Ghanaers geboren. Nach einer Zeit im Heim wird sie adoptiert und wächst als Sylvia Brigitte Gertrud Opitz in einer weißen Familie auf. Das Gefühl des "Andersseins", Strenge, Anpassungszwang und alltäglicher Rassismus prägen ihre Kindheit und Jugend, erzählt sie später in Interviews und Texten.
"Ich ging noch nicht zur Schule, da bat ich meine Pflegemutter, sie möge mich weißwaschen. Ich hatte schon die erste Lektion in Sachen Rassismus gelernt: Weiß ist besser."
Zum ersten Mal aufgehoben und verstanden fühlt sie sich, als sie nach ihrem Diplom in Psychologie und Erziehung nach Berlin zieht und dort viele andere schwarze Frauen kennenlernt - unter ihnen die US-amerikanische Schriftstellerin, Aktivistin und Dozentin Audre Lorde, die die Entstehung der afrodeutschen Community maßgeblich inspiriert und begleitet.
May Ayim macht eine Ausbildung zur Logopädin, schreibt Artikel, Essays und Gedichte, reist und hält Vorträge, gibt Bücher heraus, engagiert sich als Aktivistin in der jungen afrodeutschen Bewegung, die den Begriff "afrodeutsch" als positive Selbstbezeichnung überhaupt erst entwickelt und etabliert.
"Die Zahl potenzieller Opfer sagt wenig oder gar nichts über Vorhandensein und Tragweite des rassistischen Potenzials."
Prägend für die Community ist bis heute unter anderem die von ihr zusammen mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgegebene Anthologie "Farbe bekennen - Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte" und die Mitgründung der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD), beides Mitte der 1980er Jahre.
Kampf um Sichtbarkeit schwarzer deutscher Lebensrealitäten
Ab Anfang der 1990er Jahre arbeitet May Ayim als freie Logopädin und als Lehrbeauftragte, Sprachtherapeutin und Studienberaterin an verschiedenen Berliner Hochschulen. Sie arbeitet zudem auf eine Doktorarbeit über "Ethnozentrismus und Rassismus in Therapiebereichen" hin. In dieser Zeit nimmt sie auch Ayim, den Nachnamen ihres Vaters, als Künstlernamen an. 1995 veröffentlicht sie ihren ersten Gedichtband "Blues in Schwarz Weiss".
May Ayim leidet unter psychischen Belastungen – am 9. August 1996 nimmt sie sich das Leben. Bis heute inspiriert sie viele Menschen in der afrodeutschen Community und darüber hinaus.
"Ja, ich habe Angst und ich überlege mir gut, wo und mit wem ich nachts die Straßen von West- und Ostberlin betrete. Aber viel mehr als Angst empfinde ich Wut, Schmerz und Enttäuschung."
Den Vortrag "Sozialhistorische Ausdrucksformen des Rassismus" hat May Ayim, damals noch unter dem Namen May Opitz, im November 1990 bei einer Rassismus-Konferenz in den Niederlanden gehalten. Der zweite Vortrag, "Die Fremdheit nimmt ab, die Feindlichkeit nimmt zu", erschien 1991 in "Beiträge zur Feministischen Theorie und Praxis". Die Journalistin, Podcasterin und Autorin Alice Hasters hat sie für den Hörsaal vorgetragen.
Beide Texte finden sich in dem Sammelband "May Ayim - Radikale Dichterin, sanfte Rebellin" wieder, der neben Erinnerungen an May Ayim und Vorträgen und Artikeln Ayims auch bislang unveröffentlichte Texte von ihr enthält (Unrast-Verlag, Erscheinungstag: 08. August 2021, herausgegeben von Ika Hügel-Marshall, Nivedita Prasad und Dagmar Schultz).
Hörtipp: Die zweite Folge unseres Hörsaal-Wochenendes zu May Ayim ist ihren "Erbinnen" gewidmet. Darin hört ihr Vorträge zu Sprache und Rassismus, zu psychischen Folgen von Rassismus und Aktivismus sowie zu afrodeutscher Geschichte und der Macht historischer Narrative von jungen Akademikerinnen, die durch May Ayim inspiriert wurden.
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