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Kaputte Aufzüge, Stufen statt Rampen, Türschwellen vor dem Club: Oft werden Menschen mit Behinderungen zu wenig mitgedacht. Alhassane Baldé ist ein deutscher Rennrollstuhlfahrer und früherer Spitzensportler – doch seine eigentliche Herausforderung ist der Alltag. VdK-Präsidentin und Paralympics-Rekordsiegerin Verena Bentele weiß, wovon er spricht.

Alhassane Baldé war früher selbst bei den Paralympics am Start, heute ist er in Paris als Besucher dabei. Die Wettkampfstätten seien weit voneinander entfernt und man sei als Besucher*in darauf angewiesen, die Metro zu nehmen. Er hätte gedacht oder erwartet, dass man zumindest an den wichtigen Knotenpunkten versucht, das barrierefreier zu machen, sagt Alhassane.

"Es ist absolut nicht barrierefrei hier in Paris."
Alhassane Baldé, ehemaliger Spitzen-Rennrollstuhlfahrer

Doch jetzt nur mit dem Finger auf Paris zu zeigen, macht natürlich keinen Sinn. Auch in Deutschland gibt es große Probleme mit der Barrierefreiheit, sagt Alhassane – und er weiß, wovon er spricht. Bus und Bahn fahren sei, je nach Stadt, immer noch eine Herausforderung. "Zugfahren ist nach wie vor nichts, was ich mit Leidenschaft mache. Was mich da eben nervt: Man kann nicht so wie Nichtbehinderte spontan buchen und sich einfach in den Zug reinsetzen, sondern man muss das anmelden und schauen, dass das alles irgendwie ineinander greift. Und das macht es komplizierter und schwieriger."

Alhassane lebt in Nürnberg. Wenn es ihm mit Bus und Bahn mal wieder zu nervig ist, steigt er ins Auto – das wurde extra für seine Bedürfnisse umgebaut.

Vorbilder: USA, Großbritannien, Australien

Die USA, Großbritannien oder auch Australien seien auf diesem Gebiet inzwischen weiter, sagt Alhassane. In San Francisco oder Oregon, wo er kürzlich war, seien etwa sogar komplizierte Trails, also Wanderwege, für Menschen mit Behinderung ausgeschildert und Alternativrouten würden angeboten. Das zeige, dass dort anders gedacht wird und versucht wird, diese Menschen überall mit einzubeziehen.

Beliebte Spots hätten zum Beispiel oft geteerte Wege für Rollifahrer, teilweise könne man bei Steigungen auch mit dem Sessellift ein Stück weit mitfahren und bekäme dort Unterstützung. In Deutschland sei es oft noch sehr schwer, einen barrierefreien Waldspaziergang zu machen.

Bis 2026 soll der ÖPNV barrierefrei sein

Rund acht Millionen Menschen in Deutschland sind schwerbehindert – das sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Doch nicht nur für diese Menschen ist Barrierefreiheit superwichtig, sondern auch für Ältere, die nicht mehr gut zu Fuß sind oder für Personen, die zum Beispiel nach einer Verletzung keine Treppe mehr nehmen können. Oder schlicht für Eltern oder Großeltern, die einen Kinderwagen schieben.

"Man kann nicht so wie Nichtbehinderte spontan buchen und sich einfach in den Zug reinsetzen."
Alhassane Baldé, ehemaliger Spitzen-Rennrollstuhlfahrer

Das ambitionierte Ziel der Bundesregierung: Bis 2026 soll der ÖPNV bundesweit barrierefrei sein. Ob das allerdings gelingt, ist offen.
Doch trotz aller Kritik: Deutschland hat sich auf diesem Weg deutlich verbessert, sagt Alhassane – es gebe aber noch viel zu tun.

Verena Bentele: "Es ist noch Luft nach oben."

Zustimmung bekommt er da von Verena Bentele. Die ehemalige deutsche Biathletin und Skilangläuferin wurde als Blinde viermal Weltmeisterin und gewann zwölfmal Gold bei den Paralympics. Von 2014 bis Mai 2018 war sie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, seitdem ist sie Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands VdK.

"Was ich mir als blinde Person wünschen würde: Dass wir überall Bodenleitsysteme haben, an denen man sich orientieren kann mit dem Stock."
Verena Bentele, VdK-Präsidentin und Paralympics Rekordsiegerin

Als blinde Frau komme sie in München einigermaßen gut von A nach B, sagt Bentele – allerdings vor allem deshalb, weil sie ja auch Treppen nutzen kann, wenn Rolltreppe oder Aufzug mal ausfallen. Für Rollstuhlfahrer*innen sei das natürlich schon schwieriger – auch, weil es nicht überall abgesenkte Bordsteine gebe.

Was sie sich als blinde Person unter anderem wünscht:

  • Dass wir überall Bodenleitsysteme haben (Platten mit Rillen, die am Boden verlegt werden), an denen sich Blinde mit ihrem Stock orientieren können
  • Dass alle Busse, U-Bahnen und Trams laute Ansagen machen, wo sie jetzt hinfahren
  • Mehr abgesenkte Bordsteine

Ein weiteres Problem: Bei großen Baustellen – etwa bei der aktuellen am Münchner Hauptbahnhof – sehe die Umgebung jeden Tag anders aus.

Häufigere Umsetzung des Zwei-Sinne-Prinzips

Helfen könnte das sogenannte Zwei-Sinne-Prinzip: Hören, Sehen und Tasten – zwei dieser Sinne müssen zur Verfügung stehen, so dass Menschen mit Behinderung ein Angebot nutzen können. Beispiel ÖPNV: Blinde Menschen bekommen Unterstützung zum einen durch hörbare Ansagen – dass der Bus also etwa sagt "Ich bin die 153". Außerdem finden sie auch noch am Boden eine Rille vor, die sie mit dem Stock ertasten können.

"Was wir insgesamt sehen: Das Thema Barrierefreiheit kommt in der Bau- und Planungsphase oft noch zu kurz."
Verena Bentele, VdK-Präsidentin und Paralympics Rekordsiegerin

Von einer flächendeckenden Umsetzung des Zwei-Sinne-Prinzips ist Deutschland noch weit entfernt, so Bentele. Vielleicht sei zwar eine Sache mitgedacht worden – dafür wurde dann aber eben eine andere vergessen. Wenn wir über barrierefreie Zugänge im Straßen- und Nahverkehr sprechen, müssen die Verantwortlichen in viele Richtungen mitdenken. Denn nur, weil ein Zugang rollstuhlgerecht gestaltet wurde, heißt das zum Beispiel nicht auch gleichzeitig, dass er auch barrierefrei für Blinde oder Gehörlose ist.

Ihr habt Anregungen, Wünsche, Themenideen? Dann schreibt uns an Info@deutschlandfunknova.de

Shownotes
Barrierefreiheit in Deutschland
Hindernisland: Warum Alhassane nie spontan Bahn fahren kann
vom 06. September 2024
Host: 
Jenni Gärtner
Gesprächspartner: 
Alhassane Baldé, Rennrollstuhlfahrer
Gesprächspartnerin: 
Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland